Für mich gibt es keine Zeit mehr. Jn mei- ner Seligkeit vergesse ich zu zählen wie oft die Sonne auf- und untergeht. Nur die Kranken berechnen die Stunden, und die Gefangenen zeichnen einen Unglückstag nach dem andern an die Wand ihres Kerkers auf. Gern schreibt der Unglückliche seine Leidensgeschichte, der Glück- liche erzählt lieber, die Feder theilt seine Wonne zu langsam mit. Und doch muß ich schreiben, wenn Du erfahren sollst, was ich vor allen gern zu Deiner Kenntniß brächte; ich werde also oft ein Stündchen aufopfern müssen, um Dir von meinem Glücke Kenntniß zu geben, an welchem doch niemand so innigen Antheil nehmen kann, als Du. Meine Erzählung wird sehr oft unterbrochen werden, da jedoch noch eine ziemliche Weile verlaufen wird, ehe Du diese Blätter erhältst, so werden die Bruchstücke sich schon nach und nach zu einem Ganzen ge- stalten, und so fange ich denn mit jenem wun- derreichen Tage, des Wiedersehns an.
Wir hatten früh, den letzten Ort unseres Nachtlagers verlassen, und fuhren bis zum Fuße
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Einige Tage ſpäter.
Fuͤr mich gibt es keine Zeit mehr. Jn mei- ner Seligkeit vergeſſe ich zu zaͤhlen wie oft die Sonne auf- und untergeht. Nur die Kranken berechnen die Stunden, und die Gefangenen zeichnen einen Ungluͤckstag nach dem andern an die Wand ihres Kerkers auf. Gern ſchreibt der Ungluͤckliche ſeine Leidensgeſchichte, der Gluͤck- liche erzaͤhlt lieber, die Feder theilt ſeine Wonne zu langſam mit. Und doch muß ich ſchreiben, wenn Du erfahren ſollſt, was ich vor allen gern zu Deiner Kenntniß braͤchte; ich werde alſo oft ein Stuͤndchen aufopfern muͤſſen, um Dir von meinem Gluͤcke Kenntniß zu geben, an welchem doch niemand ſo innigen Antheil nehmen kann, als Du. Meine Erzaͤhlung wird ſehr oft unterbrochen werden, da jedoch noch eine ziemliche Weile verlaufen wird, ehe Du dieſe Blaͤtter erhaͤltſt, ſo werden die Bruchſtuͤcke ſich ſchon nach und nach zu einem Ganzen ge- ſtalten, und ſo fange ich denn mit jenem wun- derreichen Tage, des Wiederſehns an.
Wir hatten fruͤh, den letzten Ort unſeres Nachtlagers verlaſſen, und fuhren bis zum Fuße
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Einige Tage ſpäter.
Fuͤr mich gibt es keine Zeit mehr. Jn mei-
ner Seligkeit vergeſſe ich zu zaͤhlen wie oft die
Sonne auf- und untergeht. Nur die Kranken
berechnen die Stunden, und die Gefangenen
zeichnen einen Ungluͤckstag nach dem andern
an die Wand ihres Kerkers auf. Gern ſchreibt
der Ungluͤckliche ſeine Leidensgeſchichte, der Gluͤck-
liche erzaͤhlt lieber, die Feder theilt ſeine Wonne
zu langſam mit. Und doch muß ich ſchreiben,
wenn Du erfahren ſollſt, was ich vor allen
gern zu Deiner Kenntniß braͤchte; ich werde
alſo oft ein Stuͤndchen aufopfern muͤſſen, um
Dir von meinem Gluͤcke Kenntniß zu geben,
an welchem doch niemand ſo innigen Antheil
nehmen kann, als Du. Meine Erzaͤhlung wird
ſehr oft unterbrochen werden, da jedoch noch
eine ziemliche Weile verlaufen wird, ehe Du
dieſe Blaͤtter erhaͤltſt, ſo werden die Bruchſtuͤcke
ſich ſchon nach und nach zu einem Ganzen ge-
ſtalten, und ſo fange ich denn mit jenem wun-
derreichen Tage, des Wiederſehns an.
Wir hatten fruͤh, den letzten Ort unſeres
Nachtlagers verlaſſen, und fuhren bis zum Fuße
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 2. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia02_1820/59>, abgerufen am 16.02.2025.
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