Nächstdem war meines Vaters erster Weg zu Deiner Mutter. Er hatte diese, seine einzige Schwester, zwar wenig gekannt, aber er liebte sie mit brüderlichem Herzen. Sie war, als er nach Amerika ging, noch ein zartes Kind, und befand sich schon im Kloster St. Cyr zur Er- ziehung. Nach seiner Zurückkunft hatte er sie mehrere Mahle dort besucht, und sich ihrer auf- blühenden Schönheit und ihres sanften We- sens gefreut. Aber ein Sprachgitter bleibt immer eine Scheidewand zwischen liebenden Geschwistern, welche, wenn auch nicht die Liebe mindert, doch die Vertraulichkeit hemmt. Mein Vater war schon in Chaumerive, als er erfuhr, daß der Herzog Deine Mutter an den Hof gebracht, wo sie vielen Beifall ernte. Um die Zeit seiner eigenen Verheirathung hörte er, sie werde sich mit dem Herzog von P. vermäh- len. Er schrieb ihr, sie antwortete ihm zwar zärtlich, doch sehr schüchtern, und deutete auf den Zorn des Oheims, und auf die Beschrän- kung, worein ihre nahe bevorstehende Verbin- dung sie zu versetzen drohe. Sie pries ihn glücklich, als Mann sein Schicksal einiger Ma-
Naͤchſtdem war meines Vaters erſter Weg zu Deiner Mutter. Er hatte dieſe, ſeine einzige Schweſter, zwar wenig gekannt, aber er liebte ſie mit bruͤderlichem Herzen. Sie war, als er nach Amerika ging, noch ein zartes Kind, und befand ſich ſchon im Kloſter St. Cyr zur Er- ziehung. Nach ſeiner Zuruͤckkunft hatte er ſie mehrere Mahle dort beſucht, und ſich ihrer auf- bluͤhenden Schoͤnheit und ihres ſanften We- ſens gefreut. Aber ein Sprachgitter bleibt immer eine Scheidewand zwiſchen liebenden Geſchwiſtern, welche, wenn auch nicht die Liebe mindert, doch die Vertraulichkeit hemmt. Mein Vater war ſchon in Chaumerive, als er erfuhr, daß der Herzog Deine Mutter an den Hof gebracht, wo ſie vielen Beifall ernte. Um die Zeit ſeiner eigenen Verheirathung hoͤrte er, ſie werde ſich mit dem Herzog von P. vermaͤh- len. Er ſchrieb ihr, ſie antwortete ihm zwar zaͤrtlich, doch ſehr ſchuͤchtern, und deutete auf den Zorn des Oheims, und auf die Beſchraͤn- kung, worein ihre nahe bevorſtehende Verbin- dung ſie zu verſetzen drohe. Sie pries ihn gluͤcklich, als Mann ſein Schickſal einiger Ma-
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Naͤchſtdem war meines Vaters erſter Weg zu
Deiner Mutter. Er hatte dieſe, ſeine einzige
Schweſter, zwar wenig gekannt, aber er liebte
ſie mit bruͤderlichem Herzen. Sie war, als er
nach Amerika ging, noch ein zartes Kind, und
befand ſich ſchon im Kloſter St. Cyr zur Er-
ziehung. Nach ſeiner Zuruͤckkunft hatte er ſie
mehrere Mahle dort beſucht, und ſich ihrer auf-
bluͤhenden Schoͤnheit und ihres ſanften We-
ſens gefreut. Aber ein Sprachgitter bleibt
immer eine Scheidewand zwiſchen liebenden
Geſchwiſtern, welche, wenn auch nicht die
Liebe mindert, doch die Vertraulichkeit hemmt.
Mein Vater war ſchon in Chaumerive, als er
erfuhr, daß der Herzog Deine Mutter an den
Hof gebracht, wo ſie vielen Beifall ernte. Um
die Zeit ſeiner eigenen Verheirathung hoͤrte er,
ſie werde ſich mit dem Herzog von P. vermaͤh-
len. Er ſchrieb ihr, ſie antwortete ihm zwar
zaͤrtlich, doch ſehr ſchuͤchtern, und deutete auf
den Zorn des Oheims, und auf die Beſchraͤn-
kung, worein ihre nahe bevorſtehende Verbin-
dung ſie zu verſetzen drohe. Sie pries ihn
gluͤcklich, als Mann ſein Schickſal einiger Ma-
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia01_1820/55>, abgerufen am 16.02.2025.
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