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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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wurde, von einer excentrischen Mutter, die ihr idiotisches Kind auf eigenthümliche Weise pflegte, von einer Frau, die wegen Melancholie in ein Irrenhaus gesperrt wurde, und lässt so erkennen, was für Reminiscenzen durch ihren Kopf ziehen, wenn sich ihrer eine unbehagliche Stimmung bemächtigt hat. Nachdem sie sich dieser Erzählungen entledigt hat, wird sie sehr heiter, berichtet von ihrem Leben auf ihrem Gut, von den Beziehungen, die sie zu hervorragenden Männern Deutsch-Russlands und Norddeutschlands unterhält, und es fällt mit wahrlich schwer, diese Fülle von Bethätigung mit der Vorstellung einer so arg nervösen Frau zu vereinen.

In der Hypnose frage ich also: warum sie heute morgens so unruhig war, und erhalte anstatt des Bedenkens über den Lift die Auskunft, sie habe gefürchtet, die Periode werde wiederkehren und sie wiederum an der Massage stören.1

1 Der Hergang war also folgender gewesen: Als sie am Morgen aufwachte, fand sie sich in ängstlicher Stimmung und griff, um diese Stimmung aufzuklären, zur nächsten ängstlichen Vorstellung, die sich finden wollte. Ein Gespräch über den Lift im Hause der Kinder war am Nachmittag vorher vorgefallen. Die immer besorgte Mutter hatte die Gouvernante gefragt, ob die ältere Tochter, die wegen rechtsseitiger Ovarie und Schmerzen im rechten Bein nicht viel gehen konnte, den Lift auch zum Herunterkommen benütze. Eine Erinnerungstäuschung gestattete ihr dann, die Angst, deren sie sich bewusst war, an die Vorstellung dieses Aufzuges zu knüpfen. Den wirklichen Grund ihrer Angst fand in sie ihrem Bewusstsein nicht; der ergab sich erst, aber ohne jedes Zögern, als ich sie in der Hypnose darum befragte. Es war derselbe Vorgang, den Bernheim und Andere nach ihm bei den Personen studiert haben, die posthypnotisch einen in der Hypnose ertheilten Auftrag ausführen. Z. B. Bernheim (Die Suggestion, 31 der deutschen Uebersetzung) hat einem Kranken suggerirt, dass er nach dem Erwachen beide Daumen in den Mund stecken werde. Er thut es auch und entschuldigt sich damit, dass er seit einem Biss, den er sich Tags vorher im epileptiformen Anfall zugefügt, einen Schmerz in der Zunge empfinde. Ein Mädchen versucht, der Suggestion gehorsam, einen Mordanschlag auf einen ihr völlig fremden Gerichtsbeamten; erfasst und nach den Gründen ihrer That befragt, erfindet sie eine Geschichte von einer ihr zugefügten Kränkung, die eine Rache erforderte. Es scheint ein Bedürfniss vorzuliegen, psychische Phänomene, deren man sich bewusst wird, in causale Verknüpfung mit anderem Bewussten zu bringen. Wo sich die wirkliche Verursachung der Wahrnehmung des Bewusstseins entzieht, versucht man unbedenklich eine andere Verknüpfung, an die man selbst glaubt, obwohl sie falsch ist. Es ist klar, dass eine vorhandene Spaltung des Bewusstseinsinhaltes solchen "falschen Verknüpfungen" den grössten Vorschub leisten muss. Ich will bei dem oben erwähnten Beispiel einer falschen Vernüpfung etwas länger verweilen, weil es in mehr als einer Hinsicht als vorbildlich bezeichnet werden darf. Vorbildlich zunächt für das Verhalten dieser Patientin, die mir im

wurde, von einer excentrischen Mutter, die ihr idiotisches Kind auf eigenthümliche Weise pflegte, von einer Frau, die wegen Melancholie in ein Irrenhaus gesperrt wurde, und lässt so erkennen, was für Reminiscenzen durch ihren Kopf ziehen, wenn sich ihrer eine unbehagliche Stimmung bemächtigt hat. Nachdem sie sich dieser Erzählungen entledigt hat, wird sie sehr heiter, berichtet von ihrem Leben auf ihrem Gut, von den Beziehungen, die sie zu hervorragenden Männern Deutsch-Russlands und Norddeutschlands unterhält, und es fällt mit wahrlich schwer, diese Fülle von Bethätigung mit der Vorstellung einer so arg nervösen Frau zu vereinen.

In der Hypnose frage ich also: warum sie heute morgens so unruhig war, und erhalte anstatt des Bedenkens über den Lift die Auskunft, sie habe gefürchtet, die Periode werde wiederkehren und sie wiederum an der Massage stören.1

1 Der Hergang war also folgender gewesen: Als sie am Morgen aufwachte, fand sie sich in ängstlicher Stimmung und griff, um diese Stimmung aufzuklären, zur nächsten ängstlichen Vorstellung, die sich finden wollte. Ein Gespräch über den Lift im Hause der Kinder war am Nachmittag vorher vorgefallen. Die immer besorgte Mutter hatte die Gouvernante gefragt, ob die ältere Tochter, die wegen rechtsseitiger Ovarie und Schmerzen im rechten Bein nicht viel gehen konnte, den Lift auch zum Herunterkommen benütze. Eine Erinnerungstäuschung gestattete ihr dann, die Angst, deren sie sich bewusst war, an die Vorstellung dieses Aufzuges zu knüpfen. Den wirklichen Grund ihrer Angst fand in sie ihrem Bewusstsein nicht; der ergab sich erst, aber ohne jedes Zögern, als ich sie in der Hypnose darum befragte. Es war derselbe Vorgang, den Bernheim und Andere nach ihm bei den Personen studiert haben, die posthypnotisch einen in der Hypnose ertheilten Auftrag ausführen. Z. B. Bernheim (Die Suggestion, 31 der deutschen Uebersetzung) hat einem Kranken suggerirt, dass er nach dem Erwachen beide Daumen in den Mund stecken werde. Er thut es auch und entschuldigt sich damit, dass er seit einem Biss, den er sich Tags vorher im epileptiformen Anfall zugefügt, einen Schmerz in der Zunge empfinde. Ein Mädchen versucht, der Suggestion gehorsam, einen Mordanschlag auf einen ihr völlig fremden Gerichtsbeamten; erfasst und nach den Gründen ihrer That befragt, erfindet sie eine Geschichte von einer ihr zugefügten Kränkung, die eine Rache erforderte. Es scheint ein Bedürfniss vorzuliegen, psychische Phänomene, deren man sich bewusst wird, in causale Verknüpfung mit anderem Bewussten zu bringen. Wo sich die wirkliche Verursachung der Wahrnehmung des Bewusstseins entzieht, versucht man unbedenklich eine andere Verknüpfung, an die man selbst glaubt, obwohl sie falsch ist. Es ist klar, dass eine vorhandene Spaltung des Bewusstseinsinhaltes solchen „falschen Verknüpfungen“ den grössten Vorschub leisten muss. Ich will bei dem oben erwähnten Beispiel einer falschen Vernüpfung etwas länger verweilen, weil es in mehr als einer Hinsicht als vorbildlich bezeichnet werden darf. Vorbildlich zunächt für das Verhalten dieser Patientin, die mir im
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          <p>In der Hypnose frage ich also: warum sie heute morgens so unruhig war, und erhalte anstatt des Bedenkens über den Lift die Auskunft, sie habe gefürchtet, die Periode werde wiederkehren und sie wiederum an der Massage stören.<note place="foot" n="1"><p>Der Hergang war also folgender gewesen: Als sie am Morgen aufwachte, fand sie sich in ängstlicher Stimmung und griff, um diese Stimmung aufzuklären, zur nächsten ängstlichen Vorstellung, die sich finden wollte. Ein Gespräch über den Lift im Hause der Kinder war am Nachmittag vorher vorgefallen. Die immer besorgte Mutter hatte die Gouvernante gefragt, ob die ältere Tochter, die wegen rechtsseitiger Ovarie und Schmerzen im rechten Bein nicht viel gehen konnte, den Lift auch zum Herunterkommen benütze. Eine Erinnerungstäuschung gestattete ihr dann, die Angst, deren sie sich bewusst war, an die Vorstellung dieses Aufzuges zu knüpfen. Den wirklichen Grund ihrer Angst fand in sie ihrem Bewusstsein nicht; der ergab sich erst, aber ohne jedes Zögern, als ich sie in der Hypnose darum befragte. Es war derselbe Vorgang, den <hi rendition="#g">Bernheim</hi> und Andere nach ihm bei den Personen studiert haben, die posthypnotisch einen in der Hypnose ertheilten Auftrag ausführen. Z. B. <hi rendition="#g">Bernheim</hi> (Die Suggestion, 31 der deutschen Uebersetzung) hat einem Kranken suggerirt, dass er nach dem Erwachen beide Daumen in den Mund stecken werde. Er thut es auch und entschuldigt sich damit, dass er seit einem Biss, den er sich Tags vorher im epileptiformen Anfall zugefügt, einen Schmerz in der Zunge empfinde. Ein Mädchen versucht, der Suggestion gehorsam, einen Mordanschlag auf einen ihr völlig fremden Gerichtsbeamten; erfasst und nach den Gründen ihrer That befragt, erfindet sie eine Geschichte von einer ihr zugefügten Kränkung, die eine Rache erforderte. Es scheint ein Bedürfniss vorzuliegen, psychische Phänomene, deren man sich bewusst wird, in causale Verknüpfung mit anderem Bewussten zu bringen. Wo sich die wirkliche Verursachung der Wahrnehmung des Bewusstseins entzieht, versucht man unbedenklich eine andere Verknüpfung, an die man selbst glaubt, obwohl sie falsch ist. Es ist klar, dass eine vorhandene Spaltung des Bewusstseinsinhaltes solchen &#x201E;<hi rendition="#g">falschen Verknüpfungen</hi>&#x201C; den grössten Vorschub leisten muss.</p><p xml:id="p1">Ich will bei dem oben erwähnten Beispiel einer falschen Vernüpfung etwas länger verweilen, weil es in mehr als einer Hinsicht als vorbildlich bezeichnet werden darf. Vorbildlich zunächt für das Verhalten dieser Patientin, die mir im</p></note></p>
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[55/0061] wurde, von einer excentrischen Mutter, die ihr idiotisches Kind auf eigenthümliche Weise pflegte, von einer Frau, die wegen Melancholie in ein Irrenhaus gesperrt wurde, und lässt so erkennen, was für Reminiscenzen durch ihren Kopf ziehen, wenn sich ihrer eine unbehagliche Stimmung bemächtigt hat. Nachdem sie sich dieser Erzählungen entledigt hat, wird sie sehr heiter, berichtet von ihrem Leben auf ihrem Gut, von den Beziehungen, die sie zu hervorragenden Männern Deutsch-Russlands und Norddeutschlands unterhält, und es fällt mit wahrlich schwer, diese Fülle von Bethätigung mit der Vorstellung einer so arg nervösen Frau zu vereinen. In der Hypnose frage ich also: warum sie heute morgens so unruhig war, und erhalte anstatt des Bedenkens über den Lift die Auskunft, sie habe gefürchtet, die Periode werde wiederkehren und sie wiederum an der Massage stören. 1 1 Der Hergang war also folgender gewesen: Als sie am Morgen aufwachte, fand sie sich in ängstlicher Stimmung und griff, um diese Stimmung aufzuklären, zur nächsten ängstlichen Vorstellung, die sich finden wollte. Ein Gespräch über den Lift im Hause der Kinder war am Nachmittag vorher vorgefallen. Die immer besorgte Mutter hatte die Gouvernante gefragt, ob die ältere Tochter, die wegen rechtsseitiger Ovarie und Schmerzen im rechten Bein nicht viel gehen konnte, den Lift auch zum Herunterkommen benütze. Eine Erinnerungstäuschung gestattete ihr dann, die Angst, deren sie sich bewusst war, an die Vorstellung dieses Aufzuges zu knüpfen. Den wirklichen Grund ihrer Angst fand in sie ihrem Bewusstsein nicht; der ergab sich erst, aber ohne jedes Zögern, als ich sie in der Hypnose darum befragte. Es war derselbe Vorgang, den Bernheim und Andere nach ihm bei den Personen studiert haben, die posthypnotisch einen in der Hypnose ertheilten Auftrag ausführen. Z. B. Bernheim (Die Suggestion, 31 der deutschen Uebersetzung) hat einem Kranken suggerirt, dass er nach dem Erwachen beide Daumen in den Mund stecken werde. Er thut es auch und entschuldigt sich damit, dass er seit einem Biss, den er sich Tags vorher im epileptiformen Anfall zugefügt, einen Schmerz in der Zunge empfinde. Ein Mädchen versucht, der Suggestion gehorsam, einen Mordanschlag auf einen ihr völlig fremden Gerichtsbeamten; erfasst und nach den Gründen ihrer That befragt, erfindet sie eine Geschichte von einer ihr zugefügten Kränkung, die eine Rache erforderte. Es scheint ein Bedürfniss vorzuliegen, psychische Phänomene, deren man sich bewusst wird, in causale Verknüpfung mit anderem Bewussten zu bringen. Wo sich die wirkliche Verursachung der Wahrnehmung des Bewusstseins entzieht, versucht man unbedenklich eine andere Verknüpfung, an die man selbst glaubt, obwohl sie falsch ist. Es ist klar, dass eine vorhandene Spaltung des Bewusstseinsinhaltes solchen „falschen Verknüpfungen“ den grössten Vorschub leisten muss. Ich will bei dem oben erwähnten Beispiel einer falschen Vernüpfung etwas länger verweilen, weil es in mehr als einer Hinsicht als vorbildlich bezeichnet werden darf. Vorbildlich zunächt für das Verhalten dieser Patientin, die mir im

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/61>, abgerufen am 28.04.2024.