Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

soll, während sie schläft. - einen schweren Vorwurf zu machen. Nachdem die erste, oberflächlichste Schichte von quälenden Reminiscenzen abgetragen ist, kommt ihre sittlich überempfindliche, mit der Neigung zur Selbstverkleinerung behaftete Persönlichkeit zum Vorscheine, der ich im Wachen wie in der Hypnose vorsage, was eine Umschreibung des alten Satzes "minima non curat praetor" ist, dass es zwischen dem Guten und dem Schlechten eine ganze grosse Gruppe von indifferenten, kleinen Dingen gibt, aus denen sich niemand einen Vorwurf machen soll. Ich glaube, sie nimmt diese Lehren nicht viel besser auf als irgend ein asketischer Mönch des Mittelalters, der den Finger Gottes und die Versuchung des Teufels in jedem kleinsten Erlebniss sieht, das ihn betrifft, und der nicht im Stande ist, sich die Welt nur für eine kleine Weile und in irgend einer kleinen Ecke ohne Beziehung auf seine Person vorzustellen.

In der Hypnose bringt sie einzelne Nachträge an schreckhaften Bildern (so in Abbazia blutige Köpfe auf jeder Woge.) Ich lasse mir von ihr die Lehren wiederholen, die ich ihr im Wachen ertheilt habe.

15. Mai. Sie hat bis 1/29 Uhr geschlafen, ist aber gegen morgens unruhig geworden und empfängt mich mit leichtem Tick, Schnalzen und etwas Sprachhemmung. "Ich sterbe vor Angst." Erzählt auf Befragen, dass die Pension, in der die Kinder hier untergebracht sind, sich im 4. Stock befinde und mittelst eines Lifts zu erreichen sei. Sie habe nun gestern verlangt, dass die Kinder diesen Lift auch zum Herunterkommen benützen, und mache sich jetzt Vorwürfe darüber, da der Lift nicht ganz verlässlich sei. Der Pensionsbesitzer habe es selbst gesagt. Ob ich die Geschichte der Gräfin Sch. . . kenne, die in Rom bei einem derartigen Unfalle todt geblieben sei? Ich kenne nun die Pension und weiss, dass der Aufzug Privateigenthum des Pensionsbesitzers ist; es scheint mir nicht leicht möglich, dass der Mann, der sich dieses Aufzuges in seiner Annonce rühmt, selbst vor dessen Benützung gewarnt haben solle. Ich meine, da liegt eine von der Angst eingegebene Erinnerungstäuschung vor, theile ihr meine Ansicht mit und bringe sie ohne Mühe dazu, dass sie selbst über die Unwahrscheinlichkeit ihrer Befürchtung lacht. Eben darum kann ich nicht glauben, dass dies die Ursache ihrer Angst war, und nehme mir vor, die Frage an ihr hypnotisches Bewusstsein zu richten. Während der Massage, die ich nach mehrtägiger Unterbrechung heute wieder vornehme, erzählt sie einzelne, lose aneinder gereihte Geschichten, die aber wahr sein mögen, so von einer Kröte, die in einem Keller gefunden

soll, während sie schläft. – einen schweren Vorwurf zu machen. Nachdem die erste, oberflächlichste Schichte von quälenden Reminiscenzen abgetragen ist, kommt ihre sittlich überempfindliche, mit der Neigung zur Selbstverkleinerung behaftete Persönlichkeit zum Vorscheine, der ich im Wachen wie in der Hypnose vorsage, was eine Umschreibung des alten Satzes „minima non curat praetor“ ist, dass es zwischen dem Guten und dem Schlechten eine ganze grosse Gruppe von indifferenten, kleinen Dingen gibt, aus denen sich niemand einen Vorwurf machen soll. Ich glaube, sie nimmt diese Lehren nicht viel besser auf als irgend ein asketischer Mönch des Mittelalters, der den Finger Gottes und die Versuchung des Teufels in jedem kleinsten Erlebniss sieht, das ihn betrifft, und der nicht im Stande ist, sich die Welt nur für eine kleine Weile und in irgend einer kleinen Ecke ohne Beziehung auf seine Person vorzustellen.

In der Hypnose bringt sie einzelne Nachträge an schreckhaften Bildern (so in Abbazia blutige Köpfe auf jeder Woge.) Ich lasse mir von ihr die Lehren wiederholen, die ich ihr im Wachen ertheilt habe.

15. Mai. Sie hat bis ½9 Uhr geschlafen, ist aber gegen morgens unruhig geworden und empfängt mich mit leichtem Tick, Schnalzen und etwas Sprachhemmung. „Ich sterbe vor Angst.“ Erzählt auf Befragen, dass die Pension, in der die Kinder hier untergebracht sind, sich im 4. Stock befinde und mittelst eines Lifts zu erreichen sei. Sie habe nun gestern verlangt, dass die Kinder diesen Lift auch zum Herunterkommen benützen, und mache sich jetzt Vorwürfe darüber, da der Lift nicht ganz verlässlich sei. Der Pensionsbesitzer habe es selbst gesagt. Ob ich die Geschichte der Gräfin Sch. . . kenne, die in Rom bei einem derartigen Unfalle todt geblieben sei? Ich kenne nun die Pension und weiss, dass der Aufzug Privateigenthum des Pensionsbesitzers ist; es scheint mir nicht leicht möglich, dass der Mann, der sich dieses Aufzuges in seiner Annonce rühmt, selbst vor dessen Benützung gewarnt haben solle. Ich meine, da liegt eine von der Angst eingegebene Erinnerungstäuschung vor, theile ihr meine Ansicht mit und bringe sie ohne Mühe dazu, dass sie selbst über die Unwahrscheinlichkeit ihrer Befürchtung lacht. Eben darum kann ich nicht glauben, dass dies die Ursache ihrer Angst war, und nehme mir vor, die Frage an ihr hypnotisches Bewusstsein zu richten. Während der Massage, die ich nach mehrtägiger Unterbrechung heute wieder vornehme, erzählt sie einzelne, lose aneinder gereihte Geschichten, die aber wahr sein mögen, so von einer Kröte, die in einem Keller gefunden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0060" n="54"/>
soll, während sie schläft. &#x2013; einen schweren Vorwurf zu machen. Nachdem die erste, oberflächlichste Schichte von quälenden Reminiscenzen abgetragen ist, kommt ihre sittlich überempfindliche, mit der Neigung zur Selbstverkleinerung behaftete Persönlichkeit zum Vorscheine, der ich im Wachen wie in der Hypnose vorsage, was eine Umschreibung des alten Satzes &#x201E;minima non curat praetor&#x201C; ist, dass es zwischen dem Guten und dem Schlechten eine ganze grosse Gruppe von indifferenten, kleinen Dingen gibt, aus denen sich niemand einen Vorwurf machen soll. Ich glaube, sie nimmt diese Lehren nicht viel besser auf als irgend ein asketischer Mönch des Mittelalters, der den Finger Gottes und die Versuchung des Teufels in jedem kleinsten Erlebniss sieht, das ihn betrifft, und der nicht im Stande ist, sich die Welt nur für eine kleine Weile und in irgend einer kleinen Ecke ohne Beziehung auf seine Person vorzustellen.</p>
          <p>In der Hypnose bringt sie einzelne Nachträge an schreckhaften Bildern (so in <hi rendition="#g">Abbazia</hi> blutige Köpfe auf jeder Woge.) Ich lasse mir von ihr die Lehren wiederholen, die ich ihr im Wachen ertheilt habe.</p>
          <p>15. <hi rendition="#g">Mai</hi>. Sie hat bis ½9 Uhr geschlafen, ist aber gegen morgens unruhig geworden und empfängt mich mit leichtem Tick, Schnalzen und etwas Sprachhemmung. &#x201E;Ich sterbe vor Angst.&#x201C; Erzählt auf Befragen, dass die Pension, in der die Kinder hier untergebracht sind, sich im 4. Stock befinde und mittelst eines Lifts zu erreichen sei. Sie habe nun gestern verlangt, dass die Kinder diesen Lift auch zum Herunterkommen benützen, und mache sich jetzt Vorwürfe darüber, da der Lift nicht ganz verlässlich sei. Der Pensionsbesitzer habe es selbst gesagt. Ob ich die Geschichte der Gräfin Sch. . . kenne, die in Rom bei einem derartigen Unfalle todt geblieben sei? Ich kenne nun die Pension und weiss, dass der Aufzug Privateigenthum des Pensionsbesitzers ist; es scheint mir nicht leicht möglich, dass der Mann, der sich dieses Aufzuges in seiner Annonce rühmt, selbst vor dessen Benützung gewarnt haben solle. Ich meine, da liegt eine von der Angst eingegebene Erinnerungstäuschung vor, theile ihr meine Ansicht mit und bringe sie ohne Mühe dazu, dass sie selbst über die Unwahrscheinlichkeit ihrer Befürchtung lacht. Eben darum kann ich nicht glauben, dass dies die Ursache ihrer Angst war, und nehme mir vor, die Frage an ihr hypnotisches Bewusstsein zu richten. Während der Massage, die ich nach mehrtägiger Unterbrechung heute wieder vornehme, erzählt sie einzelne, lose aneinder gereihte Geschichten, die aber wahr sein mögen, so von einer Kröte, die in einem Keller gefunden
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[54/0060] soll, während sie schläft. – einen schweren Vorwurf zu machen. Nachdem die erste, oberflächlichste Schichte von quälenden Reminiscenzen abgetragen ist, kommt ihre sittlich überempfindliche, mit der Neigung zur Selbstverkleinerung behaftete Persönlichkeit zum Vorscheine, der ich im Wachen wie in der Hypnose vorsage, was eine Umschreibung des alten Satzes „minima non curat praetor“ ist, dass es zwischen dem Guten und dem Schlechten eine ganze grosse Gruppe von indifferenten, kleinen Dingen gibt, aus denen sich niemand einen Vorwurf machen soll. Ich glaube, sie nimmt diese Lehren nicht viel besser auf als irgend ein asketischer Mönch des Mittelalters, der den Finger Gottes und die Versuchung des Teufels in jedem kleinsten Erlebniss sieht, das ihn betrifft, und der nicht im Stande ist, sich die Welt nur für eine kleine Weile und in irgend einer kleinen Ecke ohne Beziehung auf seine Person vorzustellen. In der Hypnose bringt sie einzelne Nachträge an schreckhaften Bildern (so in Abbazia blutige Köpfe auf jeder Woge.) Ich lasse mir von ihr die Lehren wiederholen, die ich ihr im Wachen ertheilt habe. 15. Mai. Sie hat bis ½9 Uhr geschlafen, ist aber gegen morgens unruhig geworden und empfängt mich mit leichtem Tick, Schnalzen und etwas Sprachhemmung. „Ich sterbe vor Angst.“ Erzählt auf Befragen, dass die Pension, in der die Kinder hier untergebracht sind, sich im 4. Stock befinde und mittelst eines Lifts zu erreichen sei. Sie habe nun gestern verlangt, dass die Kinder diesen Lift auch zum Herunterkommen benützen, und mache sich jetzt Vorwürfe darüber, da der Lift nicht ganz verlässlich sei. Der Pensionsbesitzer habe es selbst gesagt. Ob ich die Geschichte der Gräfin Sch. . . kenne, die in Rom bei einem derartigen Unfalle todt geblieben sei? Ich kenne nun die Pension und weiss, dass der Aufzug Privateigenthum des Pensionsbesitzers ist; es scheint mir nicht leicht möglich, dass der Mann, der sich dieses Aufzuges in seiner Annonce rühmt, selbst vor dessen Benützung gewarnt haben solle. Ich meine, da liegt eine von der Angst eingegebene Erinnerungstäuschung vor, theile ihr meine Ansicht mit und bringe sie ohne Mühe dazu, dass sie selbst über die Unwahrscheinlichkeit ihrer Befürchtung lacht. Eben darum kann ich nicht glauben, dass dies die Ursache ihrer Angst war, und nehme mir vor, die Frage an ihr hypnotisches Bewusstsein zu richten. Während der Massage, die ich nach mehrtägiger Unterbrechung heute wieder vornehme, erzählt sie einzelne, lose aneinder gereihte Geschichten, die aber wahr sein mögen, so von einer Kröte, die in einem Keller gefunden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/60
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/60>, abgerufen am 28.04.2024.