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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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Knaben gebunden und ihm eine weisse Maus in den Mund gesteckt; der sei vor Schreck darüber gestorben. Dr. K. ... habe ihr erzählt, dass er eine ganze Kiste voll weisser Ratten nach Tiflis geschickt. Dabei treten alle Zeichen des Grausens höchst plastisch hervor. Sie krampft mehrmals nach einander mit der Hand. - "Seien Sie still, reden Sie nichts, rühren Sie mich nicht an! - Wenn so ein Thier im Bett wäre! (Grausen.) Denken Sie sich, wenn das ausgepackt wird! Es ist eine todte Ratte darunter, eine an-ge-nagte!"

In der Hypnose bemühe ich mich, diese Thierhallucinationen zu verscheuchen. Während sie schläft, nehme ich die Frankfurter Zeitung zur Hand; ich finde in der That die Geschichte der Misshandlung eines Lehrbuben, aber ohne Beimengung von Mäusen oder Ratten. Das hat sie also während des Lesens hinzudelirirt.

Am Abend erzähle ich ihr von unserer Unterhaltung über die weissen Mäuse. Sie weiss nichts davon, ist sehr erstaunt und lacht herzlich.1

Am Nachmittage war ein sogenannter "Genickkrampf"2 gewesen, aber "nur kurz, von zweistündiger Dauer".

Am 8. Mai abends fordere ich sie in der Hypnose zum Reden auf, was ihr nach einiger Anstrengung gelingt. Sie spricht leise, besinnt sich jedesmal einen Moment, ehe sie Antwort gibt. Ihre Miene verändert sich entsprechend dem Inhalt ihrer Erzählung und wird ruhig, sobald meine Suggestion dem Eindruck der Erzählung ein Ende gemacht hat. Ich stelle die Frage, warum sie so leicht erschrickt. Sie antwortet: Das sind Erinnerungen aus frühester Jugend. - Wann? - Zuerst mit 5 Jahren, als meine Geschwister so oft todte Thiere nach mir warfen, da bekam ich den ersten Ohnmachtsanfall mit Zuckungen, aber meine Tante sagte, das sei abscheulich, solche Anfälle darf man nicht haben, und da haben sie aufgehört. Dann mit 7 Jahren, als ich unvermuthet

1 Eine solche plötzliche Einschiebung eines Deliriums in den wachen Zustand war bei ihr nichts Seltenes und wiederholte sich noch oft unter meiner Beobachtung. Sie pflegte zu klagen, dass sie oft im Gespräch die verdrehtesten Antworten gebe, so dass ihre Leute sie nicht verstünden. Bei unserem ersten Besuch antwortete sie mir auf die Frage, wie alt sie sei, ganz ernsthaft: Ich bin eine Frau aus dem vorigen Jahrhundert. Wochen später klärte sie mich auf, sie hätte damals im Delirium an einen schönen alten Schrank gedacht, den sie auf der Reise als Liebhaberin antiker Möbel erworben. Auf diesen Schrank bezog sich die Zeitbestimmung, als meine Frage nach ihrem Alter zu einer Aussage über Zeiten Anlass gab.
2 Eine Art von Migräne.

Knaben gebunden und ihm eine weisse Maus in den Mund gesteckt; der sei vor Schreck darüber gestorben. Dr. K. ... habe ihr erzählt, dass er eine ganze Kiste voll weisser Ratten nach Tiflis geschickt. Dabei treten alle Zeichen des Grausens höchst plastisch hervor. Sie krampft mehrmals nach einander mit der Hand. – „Seien Sie still, reden Sie nichts, rühren Sie mich nicht an! – Wenn so ein Thier im Bett wäre! (Grausen.) Denken Sie sich, wenn das ausgepackt wird! Es ist eine todte Ratte darunter, eine an-ge-nagte!“

In der Hypnose bemühe ich mich, diese Thierhallucinationen zu verscheuchen. Während sie schläft, nehme ich die Frankfurter Zeitung zur Hand; ich finde in der That die Geschichte der Misshandlung eines Lehrbuben, aber ohne Beimengung von Mäusen oder Ratten. Das hat sie also während des Lesens hinzudelirirt.

Am Abend erzähle ich ihr von unserer Unterhaltung über die weissen Mäuse. Sie weiss nichts davon, ist sehr erstaunt und lacht herzlich.1

Am Nachmittage war ein sogenannter „Genickkrampf“2 gewesen, aber „nur kurz, von zweistündiger Dauer“.

Am 8. Mai abends fordere ich sie in der Hypnose zum Reden auf, was ihr nach einiger Anstrengung gelingt. Sie spricht leise, besinnt sich jedesmal einen Moment, ehe sie Antwort gibt. Ihre Miene verändert sich entsprechend dem Inhalt ihrer Erzählung und wird ruhig, sobald meine Suggestion dem Eindruck der Erzählung ein Ende gemacht hat. Ich stelle die Frage, warum sie so leicht erschrickt. Sie antwortet: Das sind Erinnerungen aus frühester Jugend. – Wann? – Zuerst mit 5 Jahren, als meine Geschwister so oft todte Thiere nach mir warfen, da bekam ich den ersten Ohnmachtsanfall mit Zuckungen, aber meine Tante sagte, das sei abscheulich, solche Anfälle darf man nicht haben, und da haben sie aufgehört. Dann mit 7 Jahren, als ich unvermuthet

1 Eine solche plötzliche Einschiebung eines Deliriums in den wachen Zustand war bei ihr nichts Seltenes und wiederholte sich noch oft unter meiner Beobachtung. Sie pflegte zu klagen, dass sie oft im Gespräch die verdrehtesten Antworten gebe, so dass ihre Leute sie nicht verstünden. Bei unserem ersten Besuch antwortete sie mir auf die Frage, wie alt sie sei, ganz ernsthaft: Ich bin eine Frau aus dem vorigen Jahrhundert. Wochen später klärte sie mich auf, sie hätte damals im Delirium an einen schönen alten Schrank gedacht, den sie auf der Reise als Liebhaberin antiker Möbel erworben. Auf diesen Schrank bezog sich die Zeitbestimmung, als meine Frage nach ihrem Alter zu einer Aussage über Zeiten Anlass gab.
2 Eine Art von Migräne.
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[41/0047] Knaben gebunden und ihm eine weisse Maus in den Mund gesteckt; der sei vor Schreck darüber gestorben. Dr. K. ... habe ihr erzählt, dass er eine ganze Kiste voll weisser Ratten nach Tiflis geschickt. Dabei treten alle Zeichen des Grausens höchst plastisch hervor. Sie krampft mehrmals nach einander mit der Hand. – „Seien Sie still, reden Sie nichts, rühren Sie mich nicht an! – Wenn so ein Thier im Bett wäre! (Grausen.) Denken Sie sich, wenn das ausgepackt wird! Es ist eine todte Ratte darunter, eine an-ge-nagte!“ In der Hypnose bemühe ich mich, diese Thierhallucinationen zu verscheuchen. Während sie schläft, nehme ich die Frankfurter Zeitung zur Hand; ich finde in der That die Geschichte der Misshandlung eines Lehrbuben, aber ohne Beimengung von Mäusen oder Ratten. Das hat sie also während des Lesens hinzudelirirt. Am Abend erzähle ich ihr von unserer Unterhaltung über die weissen Mäuse. Sie weiss nichts davon, ist sehr erstaunt und lacht herzlich. 1 Am Nachmittage war ein sogenannter „Genickkrampf“ 2 gewesen, aber „nur kurz, von zweistündiger Dauer“. Am 8. Mai abends fordere ich sie in der Hypnose zum Reden auf, was ihr nach einiger Anstrengung gelingt. Sie spricht leise, besinnt sich jedesmal einen Moment, ehe sie Antwort gibt. Ihre Miene verändert sich entsprechend dem Inhalt ihrer Erzählung und wird ruhig, sobald meine Suggestion dem Eindruck der Erzählung ein Ende gemacht hat. Ich stelle die Frage, warum sie so leicht erschrickt. Sie antwortet: Das sind Erinnerungen aus frühester Jugend. – Wann? – Zuerst mit 5 Jahren, als meine Geschwister so oft todte Thiere nach mir warfen, da bekam ich den ersten Ohnmachtsanfall mit Zuckungen, aber meine Tante sagte, das sei abscheulich, solche Anfälle darf man nicht haben, und da haben sie aufgehört. Dann mit 7 Jahren, als ich unvermuthet 1 Eine solche plötzliche Einschiebung eines Deliriums in den wachen Zustand war bei ihr nichts Seltenes und wiederholte sich noch oft unter meiner Beobachtung. Sie pflegte zu klagen, dass sie oft im Gespräch die verdrehtesten Antworten gebe, so dass ihre Leute sie nicht verstünden. Bei unserem ersten Besuch antwortete sie mir auf die Frage, wie alt sie sei, ganz ernsthaft: Ich bin eine Frau aus dem vorigen Jahrhundert. Wochen später klärte sie mich auf, sie hätte damals im Delirium an einen schönen alten Schrank gedacht, den sie auf der Reise als Liebhaberin antiker Möbel erworben. Auf diesen Schrank bezog sich die Zeitbestimmung, als meine Frage nach ihrem Alter zu einer Aussage über Zeiten Anlass gab. 2 Eine Art von Migräne.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/47>, abgerufen am 26.04.2024.