Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

Am 2. Mai abends besuche ich sie im Sanatorium. Es fällt mir auf, dass sie jedesmal so heftig zusammenschrickt, sobald die Thüre unerwartet aufgeht. Ich veranlasse daher, dass die besuchenden Hausärzte und das Wartepersonale kräftig anklopfen und nicht eher eintreten, als bis sie "Herein" gerufen hat. Trotzdem grinst und zuckt sie noch jedesmal, wenn jemand eintritt.

Ihre Hauptklage bezieht sich heute auf Kälteempfindung und Schmerzen im rechten Bein, die vom Rücken oberhalb des Darmbeinkammes ausgehen. Ich ordne warme Bäder an und werde sie zweimal täglich am ganzen Körper massiren.

Sie ist ausgezeichnet zur Hypnose geeignet. Ich halte ihr einen Finger vor, rufe ihr zu: Schlafen Sie! und sie sinkt mit dem Ausdruck von Betäubung und Verworrenheit zurück. Ich suggerire Schlaf, Besserung aller Symptome u. dgl., was sie mit geschlossenen Augen, aber unverkennbar gespannter Aufmerksamkeit anhört, und wobei ihre Miene sich allmählich glättet und einen friedlichen Ausdruck annimmt. Nach dieser ersten Hypnose bleibt eine dunkle Erinnerung an meine Worte; schon nach der zweiten tritt vollkommener Somnambulismus (Amnesie) ein. Ich hatte ihr angekündigt, dass ich sie hypnotisiren würde, worauf sie ohne Widerstand einging. Sie ist noch nie hypnotisirt worden, ich darf aber annehmen, dass sie über Hypnose gelesen hat, wiewohl ich nicht weiss, welche Vorstellung über den hypnotischen Zustand sie mitbrachte.1

Die Behandlung mit warmen Bädern, zweimaliger Massage und hypnotischer Suggestion wurde in den nächsten Tagen fortgesetzt. Sie schlief gut, erholte sich zusehends, brachte den grösseren Theil des Tages in ruhiger Krankenlage zu. Es war ihr nicht untersagt, ihre Kinder zu sehen, zu lesen und ihre Correspondenz zu besorgen.

Am 8. Mai morgens unterhält sie mich, anscheinend ganz normal, von gräulichen Thiergeschichten. Sie hat in der Frankfurter Zeitung, die vor ihr auf dem Tische liegt, gelesen, dass ein Lehrling einen

1 Beim Erwachen aus der Hypnose blickte sie jedesmal wie verworren einen Augenblick herum, liess dann ihre Augen auf mir ruhen, schien sich besonnen zu haben, zog die Brille an, die sie vor dem Einschlafen abgelegt hatte, und war dann heiter und ganz bei sich. Obwohl wir im Verlaufe der Behandlung, die in diesem Jahre 7, im nächsten 8 Wochen einnahm, über alles Mögliche mit einander sprachen und sie fast täglich zweimal von mir eingeschläfert wurde, richtete sie doch nie eine Frage oder Bemerkung über die Hypnose an mich und schien in ihrem Wachzustand die Thatsache, dass sie hypnotisirt werde, möglichst zu ignoriren.

Am 2. Mai abends besuche ich sie im Sanatorium. Es fällt mir auf, dass sie jedesmal so heftig zusammenschrickt, sobald die Thüre unerwartet aufgeht. Ich veranlasse daher, dass die besuchenden Hausärzte und das Wartepersonale kräftig anklopfen und nicht eher eintreten, als bis sie „Herein“ gerufen hat. Trotzdem grinst und zuckt sie noch jedesmal, wenn jemand eintritt.

Ihre Hauptklage bezieht sich heute auf Kälteempfindung und Schmerzen im rechten Bein, die vom Rücken oberhalb des Darmbeinkammes ausgehen. Ich ordne warme Bäder an und werde sie zweimal täglich am ganzen Körper massiren.

Sie ist ausgezeichnet zur Hypnose geeignet. Ich halte ihr einen Finger vor, rufe ihr zu: Schlafen Sie! und sie sinkt mit dem Ausdruck von Betäubung und Verworrenheit zurück. Ich suggerire Schlaf, Besserung aller Symptome u. dgl., was sie mit geschlossenen Augen, aber unverkennbar gespannter Aufmerksamkeit anhört, und wobei ihre Miene sich allmählich glättet und einen friedlichen Ausdruck annimmt. Nach dieser ersten Hypnose bleibt eine dunkle Erinnerung an meine Worte; schon nach der zweiten tritt vollkommener Somnambulismus (Amnesie) ein. Ich hatte ihr angekündigt, dass ich sie hypnotisiren würde, worauf sie ohne Widerstand einging. Sie ist noch nie hypnotisirt worden, ich darf aber annehmen, dass sie über Hypnose gelesen hat, wiewohl ich nicht weiss, welche Vorstellung über den hypnotischen Zustand sie mitbrachte.1

Die Behandlung mit warmen Bädern, zweimaliger Massage und hypnotischer Suggestion wurde in den nächsten Tagen fortgesetzt. Sie schlief gut, erholte sich zusehends, brachte den grösseren Theil des Tages in ruhiger Krankenlage zu. Es war ihr nicht untersagt, ihre Kinder zu sehen, zu lesen und ihre Correspondenz zu besorgen.

Am 8. Mai morgens unterhält sie mich, anscheinend ganz normal, von gräulichen Thiergeschichten. Sie hat in der Frankfurter Zeitung, die vor ihr auf dem Tische liegt, gelesen, dass ein Lehrling einen

1 Beim Erwachen aus der Hypnose blickte sie jedesmal wie verworren einen Augenblick herum, liess dann ihre Augen auf mir ruhen, schien sich besonnen zu haben, zog die Brille an, die sie vor dem Einschlafen abgelegt hatte, und war dann heiter und ganz bei sich. Obwohl wir im Verlaufe der Behandlung, die in diesem Jahre 7, im nächsten 8 Wochen einnahm, über alles Mögliche mit einander sprachen und sie fast täglich zweimal von mir eingeschläfert wurde, richtete sie doch nie eine Frage oder Bemerkung über die Hypnose an mich und schien in ihrem Wachzustand die Thatsache, dass sie hypnotisirt werde, möglichst zu ignoriren.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0046" n="40"/>
          <p>Am 2. Mai abends besuche ich sie im Sanatorium. Es fällt mir auf, dass sie jedesmal so heftig zusammenschrickt, sobald die Thüre unerwartet aufgeht. Ich veranlasse daher, dass die besuchenden Hausärzte und das Wartepersonale kräftig anklopfen und nicht eher eintreten, als bis sie &#x201E;Herein&#x201C; gerufen hat. Trotzdem grinst und zuckt sie noch jedesmal, wenn jemand eintritt.</p>
          <p>Ihre Hauptklage bezieht sich heute auf Kälteempfindung und Schmerzen im rechten Bein, die vom Rücken oberhalb des Darmbeinkammes ausgehen. Ich ordne warme Bäder an und werde sie zweimal täglich am ganzen Körper massiren.</p>
          <p>Sie ist ausgezeichnet zur Hypnose geeignet. Ich halte ihr einen Finger vor, rufe ihr zu: Schlafen Sie! und sie sinkt mit dem Ausdruck von Betäubung und Verworrenheit zurück. Ich suggerire Schlaf, Besserung aller Symptome u. dgl., was sie mit geschlossenen Augen, aber unverkennbar gespannter Aufmerksamkeit anhört, und wobei ihre Miene sich allmählich glättet und einen friedlichen Ausdruck annimmt. Nach dieser ersten Hypnose bleibt eine dunkle Erinnerung an meine Worte; schon nach der zweiten tritt vollkommener Somnambulismus (Amnesie) ein. Ich hatte ihr angekündigt, dass ich sie hypnotisiren würde, worauf sie ohne Widerstand einging. Sie ist noch nie hypnotisirt worden, ich darf aber annehmen, dass sie über Hypnose gelesen hat, wiewohl ich nicht weiss, welche Vorstellung über den hypnotischen Zustand sie mitbrachte.<note place="foot" n="1">Beim Erwachen aus der Hypnose blickte sie jedesmal wie verworren einen Augenblick herum, liess dann ihre Augen auf mir ruhen, schien sich besonnen zu haben, zog die Brille an, die sie vor dem Einschlafen abgelegt hatte, und war dann heiter und ganz bei sich. Obwohl wir im Verlaufe der Behandlung, die in diesem Jahre 7, im nächsten 8 Wochen einnahm, über alles Mögliche mit einander sprachen und sie fast täglich zweimal von mir eingeschläfert wurde, richtete sie doch nie eine Frage oder Bemerkung über die Hypnose an mich und schien in ihrem Wachzustand die Thatsache, dass sie hypnotisirt werde, möglichst zu ignoriren.</note></p>
          <p>Die Behandlung mit warmen Bädern, zweimaliger Massage und hypnotischer Suggestion wurde in den nächsten Tagen fortgesetzt. Sie schlief gut, erholte sich zusehends, brachte den grösseren Theil des Tages in ruhiger Krankenlage zu. Es war ihr nicht untersagt, ihre Kinder zu sehen, zu lesen und ihre Correspondenz zu besorgen.</p>
          <p>Am 8. Mai morgens unterhält sie mich, anscheinend ganz normal, von gräulichen Thiergeschichten. Sie hat in der Frankfurter Zeitung, die vor ihr auf dem Tische liegt, gelesen, dass ein Lehrling einen
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[40/0046] Am 2. Mai abends besuche ich sie im Sanatorium. Es fällt mir auf, dass sie jedesmal so heftig zusammenschrickt, sobald die Thüre unerwartet aufgeht. Ich veranlasse daher, dass die besuchenden Hausärzte und das Wartepersonale kräftig anklopfen und nicht eher eintreten, als bis sie „Herein“ gerufen hat. Trotzdem grinst und zuckt sie noch jedesmal, wenn jemand eintritt. Ihre Hauptklage bezieht sich heute auf Kälteempfindung und Schmerzen im rechten Bein, die vom Rücken oberhalb des Darmbeinkammes ausgehen. Ich ordne warme Bäder an und werde sie zweimal täglich am ganzen Körper massiren. Sie ist ausgezeichnet zur Hypnose geeignet. Ich halte ihr einen Finger vor, rufe ihr zu: Schlafen Sie! und sie sinkt mit dem Ausdruck von Betäubung und Verworrenheit zurück. Ich suggerire Schlaf, Besserung aller Symptome u. dgl., was sie mit geschlossenen Augen, aber unverkennbar gespannter Aufmerksamkeit anhört, und wobei ihre Miene sich allmählich glättet und einen friedlichen Ausdruck annimmt. Nach dieser ersten Hypnose bleibt eine dunkle Erinnerung an meine Worte; schon nach der zweiten tritt vollkommener Somnambulismus (Amnesie) ein. Ich hatte ihr angekündigt, dass ich sie hypnotisiren würde, worauf sie ohne Widerstand einging. Sie ist noch nie hypnotisirt worden, ich darf aber annehmen, dass sie über Hypnose gelesen hat, wiewohl ich nicht weiss, welche Vorstellung über den hypnotischen Zustand sie mitbrachte. 1 Die Behandlung mit warmen Bädern, zweimaliger Massage und hypnotischer Suggestion wurde in den nächsten Tagen fortgesetzt. Sie schlief gut, erholte sich zusehends, brachte den grösseren Theil des Tages in ruhiger Krankenlage zu. Es war ihr nicht untersagt, ihre Kinder zu sehen, zu lesen und ihre Correspondenz zu besorgen. Am 8. Mai morgens unterhält sie mich, anscheinend ganz normal, von gräulichen Thiergeschichten. Sie hat in der Frankfurter Zeitung, die vor ihr auf dem Tische liegt, gelesen, dass ein Lehrling einen 1 Beim Erwachen aus der Hypnose blickte sie jedesmal wie verworren einen Augenblick herum, liess dann ihre Augen auf mir ruhen, schien sich besonnen zu haben, zog die Brille an, die sie vor dem Einschlafen abgelegt hatte, und war dann heiter und ganz bei sich. Obwohl wir im Verlaufe der Behandlung, die in diesem Jahre 7, im nächsten 8 Wochen einnahm, über alles Mögliche mit einander sprachen und sie fast täglich zweimal von mir eingeschläfert wurde, richtete sie doch nie eine Frage oder Bemerkung über die Hypnose an mich und schien in ihrem Wachzustand die Thatsache, dass sie hypnotisirt werde, möglichst zu ignoriren.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/46
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/46>, abgerufen am 21.11.2024.