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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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meine Schwester im Sarge gesehen, dann mit 8 Jahren, als mich mein Bruder so häufig durch weisse Tücher als Gespenst erschreckte, dann mit 9 Jahren, als ich die Tante im Sarge sah, und ihr - plötzlich - der Unterkiefer herunterfiel.

Die Reihe von traumatischen Anlässen, die mir als Antwort auf meine Frage mitgetheilt wird, warum sie so schreckhaft sei, liegt offenbar in ihrem Gedächtniss bereit; sie hätte in dem kurzen Moment von meiner Frage bis zu ihrer Beantwortung derselben die Anlässe aus zeitlich verschiedenen Perioden ihrer Jugend nicht so schnell zusammensuchen können. Am Schlusse einer jeden Theilerzählung bekommt sie allgemeine Zuckungen und zeigt ihre Miene Schreck und Grausen, nach der letzten reisst sie den Mund weit auf und schnappt nach Athem. Die Worte, welche den schreckhaften Inhalt des Erlebnisses mittheilen, werden mühselig, keuchend hervorgestosen; nachher beruhigen sich ihre Züge.

Auf meine Frage bestätigt sie, dass sie während der Erzählung die betreffenden Scenen plastisch und in natürlichen Farben vor sich sehe. Sie denke an diese Erlebnisse überhaupt sehr häufig und habe auch in den letzten Tagen wieder daran gedacht. Sowie sie daran denke, sehe sie die Scene jedesmal vor sich mit aller Lebhaftigkeit der Realität.1 Ich verstehe jetzt, warum sie mich so häufig von Thierscenen und Leichenbildern unterhält. Meine Therapie besteht darin, diese Bilder wegzuwischen, so dass sie dieselben nicht wieder vor Augen bekommen kann. Zur Unterstützung der Suggestion streiche ich ihr mehrmals über die Augen.

9. Mai abends. Sie hat ohne erneuerte Suggestion gut geschlafen, aber morgens Magenschmerzen gehabt. Sie bekam dieselben schon gestern im Garten, wo sie zu lange mit ihren Kindern verweilte. Sie gestattet, dass ich den Besuch der Kinder auf 21/2 Stunden einschränke; vor wenigen Tagen noch hatte sie sich Vorwürfe gemacht, dass sie die Kinder allein lasse. Ich finde sie heute etwas erregt, mit krauser Stirne, Schnalzen und Sprachstocken. Während der Massage erzählt sie uns, dass ihr die Gouvernante der Kinder einen culturhistorischen Atlas gebracht, und dass sie über Bilder darin, welche als Thiere verkleidete Indianer darstellen, so heftig erschrocken sei. "Denken Sie, wenn die lebendig würden!" (Grausen.)

In der Hypnose frage ich, warum sie sich vor diesen Bildern so geschreckt, da sie sich doch vor Thieren nicht mehr fürchte? Sie

1 Dies Erinnern in lebhaften visuellen Bildern gaben uns viele andere Hysterische an und betonten es ganz besonders für die pathogenen Erinnerungen.

meine Schwester im Sarge gesehen, dann mit 8 Jahren, als mich mein Bruder so häufig durch weisse Tücher als Gespenst erschreckte, dann mit 9 Jahren, als ich die Tante im Sarge sah, und ihr – plötzlich – der Unterkiefer herunterfiel.

Die Reihe von traumatischen Anlässen, die mir als Antwort auf meine Frage mitgetheilt wird, warum sie so schreckhaft sei, liegt offenbar in ihrem Gedächtniss bereit; sie hätte in dem kurzen Moment von meiner Frage bis zu ihrer Beantwortung derselben die Anlässe aus zeitlich verschiedenen Perioden ihrer Jugend nicht so schnell zusammensuchen können. Am Schlusse einer jeden Theilerzählung bekommt sie allgemeine Zuckungen und zeigt ihre Miene Schreck und Grausen, nach der letzten reisst sie den Mund weit auf und schnappt nach Athem. Die Worte, welche den schreckhaften Inhalt des Erlebnisses mittheilen, werden mühselig, keuchend hervorgestosen; nachher beruhigen sich ihre Züge.

Auf meine Frage bestätigt sie, dass sie während der Erzählung die betreffenden Scenen plastisch und in natürlichen Farben vor sich sehe. Sie denke an diese Erlebnisse überhaupt sehr häufig und habe auch in den letzten Tagen wieder daran gedacht. Sowie sie daran denke, sehe sie die Scene jedesmal vor sich mit aller Lebhaftigkeit der Realität.1 Ich verstehe jetzt, warum sie mich so häufig von Thierscenen und Leichenbildern unterhält. Meine Therapie besteht darin, diese Bilder wegzuwischen, so dass sie dieselben nicht wieder vor Augen bekommen kann. Zur Unterstützung der Suggestion streiche ich ihr mehrmals über die Augen.

9. Mai abends. Sie hat ohne erneuerte Suggestion gut geschlafen, aber morgens Magenschmerzen gehabt. Sie bekam dieselben schon gestern im Garten, wo sie zu lange mit ihren Kindern verweilte. Sie gestattet, dass ich den Besuch der Kinder auf 2½ Stunden einschränke; vor wenigen Tagen noch hatte sie sich Vorwürfe gemacht, dass sie die Kinder allein lasse. Ich finde sie heute etwas erregt, mit krauser Stirne, Schnalzen und Sprachstocken. Während der Massage erzählt sie uns, dass ihr die Gouvernante der Kinder einen culturhistorischen Atlas gebracht, und dass sie über Bilder darin, welche als Thiere verkleidete Indianer darstellen, so heftig erschrocken sei. „Denken Sie, wenn die lebendig würden!“ (Grausen.)

In der Hypnose frage ich, warum sie sich vor diesen Bildern so geschreckt, da sie sich doch vor Thieren nicht mehr fürchte? Sie

1 Dies Erinnern in lebhaften visuellen Bildern gaben uns viele andere Hysterische an und betonten es ganz besonders für die pathogenen Erinnerungen.
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          <p>Die Reihe von traumatischen Anlässen, die mir als Antwort auf meine Frage mitgetheilt wird, warum sie so schreckhaft sei, liegt offenbar in ihrem Gedächtniss bereit; sie hätte in dem kurzen Moment von meiner Frage bis zu ihrer Beantwortung derselben die Anlässe aus zeitlich verschiedenen Perioden ihrer Jugend nicht so schnell zusammensuchen können. Am Schlusse einer jeden Theilerzählung bekommt sie allgemeine Zuckungen und zeigt ihre Miene Schreck und Grausen, nach der letzten reisst sie den Mund weit auf und schnappt nach Athem. Die Worte, welche den schreckhaften Inhalt des Erlebnisses mittheilen, werden mühselig, keuchend hervorgestosen; nachher beruhigen sich ihre Züge.</p>
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[42/0048] meine Schwester im Sarge gesehen, dann mit 8 Jahren, als mich mein Bruder so häufig durch weisse Tücher als Gespenst erschreckte, dann mit 9 Jahren, als ich die Tante im Sarge sah, und ihr – plötzlich – der Unterkiefer herunterfiel. Die Reihe von traumatischen Anlässen, die mir als Antwort auf meine Frage mitgetheilt wird, warum sie so schreckhaft sei, liegt offenbar in ihrem Gedächtniss bereit; sie hätte in dem kurzen Moment von meiner Frage bis zu ihrer Beantwortung derselben die Anlässe aus zeitlich verschiedenen Perioden ihrer Jugend nicht so schnell zusammensuchen können. Am Schlusse einer jeden Theilerzählung bekommt sie allgemeine Zuckungen und zeigt ihre Miene Schreck und Grausen, nach der letzten reisst sie den Mund weit auf und schnappt nach Athem. Die Worte, welche den schreckhaften Inhalt des Erlebnisses mittheilen, werden mühselig, keuchend hervorgestosen; nachher beruhigen sich ihre Züge. Auf meine Frage bestätigt sie, dass sie während der Erzählung die betreffenden Scenen plastisch und in natürlichen Farben vor sich sehe. Sie denke an diese Erlebnisse überhaupt sehr häufig und habe auch in den letzten Tagen wieder daran gedacht. Sowie sie daran denke, sehe sie die Scene jedesmal vor sich mit aller Lebhaftigkeit der Realität. 1 Ich verstehe jetzt, warum sie mich so häufig von Thierscenen und Leichenbildern unterhält. Meine Therapie besteht darin, diese Bilder wegzuwischen, so dass sie dieselben nicht wieder vor Augen bekommen kann. Zur Unterstützung der Suggestion streiche ich ihr mehrmals über die Augen. 9. Mai abends. Sie hat ohne erneuerte Suggestion gut geschlafen, aber morgens Magenschmerzen gehabt. Sie bekam dieselben schon gestern im Garten, wo sie zu lange mit ihren Kindern verweilte. Sie gestattet, dass ich den Besuch der Kinder auf 2½ Stunden einschränke; vor wenigen Tagen noch hatte sie sich Vorwürfe gemacht, dass sie die Kinder allein lasse. Ich finde sie heute etwas erregt, mit krauser Stirne, Schnalzen und Sprachstocken. Während der Massage erzählt sie uns, dass ihr die Gouvernante der Kinder einen culturhistorischen Atlas gebracht, und dass sie über Bilder darin, welche als Thiere verkleidete Indianer darstellen, so heftig erschrocken sei. „Denken Sie, wenn die lebendig würden!“ (Grausen.) In der Hypnose frage ich, warum sie sich vor diesen Bildern so geschreckt, da sie sich doch vor Thieren nicht mehr fürchte? Sie 1 Dies Erinnern in lebhaften visuellen Bildern gaben uns viele andere Hysterische an und betonten es ganz besonders für die pathogenen Erinnerungen.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/48>, abgerufen am 25.04.2024.