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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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wären und zwar über den langen Zeitraum ihrer Krankheit (30 Jahre) verstreut. Es wickelte sich nun wirklich eine überraschende Fülle von hysterischen Zufällen ab, welche die Kranke an ihre richtige Stelle in der Vergangenheit zu localisiren vermochte, und bald wurden auch die oft sehr verschlungenen Gedankenverbindungen kenntlich, welche die Reihenfolge dieser Zufälle bestimmten. Es war wie eine Reihe von Bildern mit erläuterndem Text. Pitres muss mit der Aufstellung seines Delire ecmnesique etwas Derartiges im Auge gehabt haben. Die Art, wie ein solcher der Vergangenheit angehöriger hysterischer Zustand reproducirt wurde, war höchst merkwürdig. Es tauchte zuerst im besten Befinden der Kranken eine pathologische Stimmung besonderer Färbung auf, welche von der Kranken regelmässig verkannt und auf ein banales Ereigniss der letzten Stunden bezogen wurde; dann folgten unter zunehmender Trübung des Bewusstseins hysterische Symptome: Hallucinationen, Schmerzen, Krämpfe, lange Declamationen, und endlich schloss sich an diese das hallucinatorische Auftauchen eines Erlebnisses aus der Vergangenheit, welches die initiale Stimmung erklären und die jeweiligen Symptome determiniren konnte. Mit diesem letzten Stück des Anfalles war die Klarheit wieder da, die Beschwerden verschwanden wie durch Zauber, und es herrschte wieder Wohlbefinden - bis zum nächsten Anfall, einen halben Tag später. Gewöhnlich wurde ich auf der Höhe des Zustandes geholt, leitete die Hypnose ein, rief die Reproduction des traumatischen Erlebnisses hervor und bereitete dem Anfall durch Kunsthilfe ein früheres Ende. Indem ich mehrere hunderte solcher Cyclen mit der Kranken durchmachte, erhielt ich die lehrreichsten Aufschlüsse über Determinirung hysterischer Symptome. Auch war die Beobachtung dieses merkwürdigen Falles in Gemeinschaft mit Breuer der nächste Anlass zur Veröffentlichung unserer "vorläufigen Mittheilung".

In diesem Zusammenhang kam es endlich auch zur Reproduction der Gesichtsneuralgie, die ich als actuellen Anfall noch selbst behandelt hatte. Ich war neugierig, ob sich eine psychische Verursachung hier ergeben würde. Als ich die traumatische Scene hervorzurufen versuchte, sah sich die Kranke in eine Zeit grosser seelischer Empfindlichkeit gegen ihren Mann versetzt, erzählte von einem Gespräch, das sie mit ihm geführt, von einer Bemerkung seinerseits, die sie als schwere Kränkung aufgefasst; dann fasste sie sich plötzlich an die Wange, schrie vor Schmerz laut auf und sagte: Das war mir wie ein Schlag in's Gesicht. - Damit war aber auch Schmerz und Anfall zu Ende.

wären und zwar über den langen Zeitraum ihrer Krankheit (30 Jahre) verstreut. Es wickelte sich nun wirklich eine überraschende Fülle von hysterischen Zufällen ab, welche die Kranke an ihre richtige Stelle in der Vergangenheit zu localisiren vermochte, und bald wurden auch die oft sehr verschlungenen Gedankenverbindungen kenntlich, welche die Reihenfolge dieser Zufälle bestimmten. Es war wie eine Reihe von Bildern mit erläuterndem Text. Pitres muss mit der Aufstellung seines Délire ecmnésique etwas Derartiges im Auge gehabt haben. Die Art, wie ein solcher der Vergangenheit angehöriger hysterischer Zustand reproducirt wurde, war höchst merkwürdig. Es tauchte zuerst im besten Befinden der Kranken eine pathologische Stimmung besonderer Färbung auf, welche von der Kranken regelmässig verkannt und auf ein banales Ereigniss der letzten Stunden bezogen wurde; dann folgten unter zunehmender Trübung des Bewusstseins hysterische Symptome: Hallucinationen, Schmerzen, Krämpfe, lange Declamationen, und endlich schloss sich an diese das hallucinatorische Auftauchen eines Erlebnisses aus der Vergangenheit, welches die initiale Stimmung erklären und die jeweiligen Symptome determiniren konnte. Mit diesem letzten Stück des Anfalles war die Klarheit wieder da, die Beschwerden verschwanden wie durch Zauber, und es herrschte wieder Wohlbefinden – bis zum nächsten Anfall, einen halben Tag später. Gewöhnlich wurde ich auf der Höhe des Zustandes geholt, leitete die Hypnose ein, rief die Reproduction des traumatischen Erlebnisses hervor und bereitete dem Anfall durch Kunsthilfe ein früheres Ende. Indem ich mehrere hunderte solcher Cyclen mit der Kranken durchmachte, erhielt ich die lehrreichsten Aufschlüsse über Determinirung hysterischer Symptome. Auch war die Beobachtung dieses merkwürdigen Falles in Gemeinschaft mit Breuer der nächste Anlass zur Veröffentlichung unserer „vorläufigen Mittheilung“.

In diesem Zusammenhang kam es endlich auch zur Reproduction der Gesichtsneuralgie, die ich als actuellen Anfall noch selbst behandelt hatte. Ich war neugierig, ob sich eine psychische Verursachung hier ergeben würde. Als ich die traumatische Scene hervorzurufen versuchte, sah sich die Kranke in eine Zeit grosser seelischer Empfindlichkeit gegen ihren Mann versetzt, erzählte von einem Gespräch, das sie mit ihm geführt, von einer Bemerkung seinerseits, die sie als schwere Kränkung aufgefasst; dann fasste sie sich plötzlich an die Wange, schrie vor Schmerz laut auf und sagte: Das war mir wie ein Schlag in's Gesicht. – Damit war aber auch Schmerz und Anfall zu Ende.

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[156/0162] wären und zwar über den langen Zeitraum ihrer Krankheit (30 Jahre) verstreut. Es wickelte sich nun wirklich eine überraschende Fülle von hysterischen Zufällen ab, welche die Kranke an ihre richtige Stelle in der Vergangenheit zu localisiren vermochte, und bald wurden auch die oft sehr verschlungenen Gedankenverbindungen kenntlich, welche die Reihenfolge dieser Zufälle bestimmten. Es war wie eine Reihe von Bildern mit erläuterndem Text. Pitres muss mit der Aufstellung seines Délire ecmnésique etwas Derartiges im Auge gehabt haben. Die Art, wie ein solcher der Vergangenheit angehöriger hysterischer Zustand reproducirt wurde, war höchst merkwürdig. Es tauchte zuerst im besten Befinden der Kranken eine pathologische Stimmung besonderer Färbung auf, welche von der Kranken regelmässig verkannt und auf ein banales Ereigniss der letzten Stunden bezogen wurde; dann folgten unter zunehmender Trübung des Bewusstseins hysterische Symptome: Hallucinationen, Schmerzen, Krämpfe, lange Declamationen, und endlich schloss sich an diese das hallucinatorische Auftauchen eines Erlebnisses aus der Vergangenheit, welches die initiale Stimmung erklären und die jeweiligen Symptome determiniren konnte. Mit diesem letzten Stück des Anfalles war die Klarheit wieder da, die Beschwerden verschwanden wie durch Zauber, und es herrschte wieder Wohlbefinden – bis zum nächsten Anfall, einen halben Tag später. Gewöhnlich wurde ich auf der Höhe des Zustandes geholt, leitete die Hypnose ein, rief die Reproduction des traumatischen Erlebnisses hervor und bereitete dem Anfall durch Kunsthilfe ein früheres Ende. Indem ich mehrere hunderte solcher Cyclen mit der Kranken durchmachte, erhielt ich die lehrreichsten Aufschlüsse über Determinirung hysterischer Symptome. Auch war die Beobachtung dieses merkwürdigen Falles in Gemeinschaft mit Breuer der nächste Anlass zur Veröffentlichung unserer „vorläufigen Mittheilung“. In diesem Zusammenhang kam es endlich auch zur Reproduction der Gesichtsneuralgie, die ich als actuellen Anfall noch selbst behandelt hatte. Ich war neugierig, ob sich eine psychische Verursachung hier ergeben würde. Als ich die traumatische Scene hervorzurufen versuchte, sah sich die Kranke in eine Zeit grosser seelischer Empfindlichkeit gegen ihren Mann versetzt, erzählte von einem Gespräch, das sie mit ihm geführt, von einer Bemerkung seinerseits, die sie als schwere Kränkung aufgefasst; dann fasste sie sich plötzlich an die Wange, schrie vor Schmerz laut auf und sagte: Das war mir wie ein Schlag in's Gesicht. – Damit war aber auch Schmerz und Anfall zu Ende.

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/162>, abgerufen am 27.04.2024.