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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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ihrer Hysterie nachweisbar ist. Die schönsten Beispiele von Symbolisirung habe ich bei Frau Cäcilie M. beobachtet, die ich meinen schwersten und lehrreichsten Fall von Hysterie nennen darf. Ich habe bereits angedeutet, dass sich diese Krankengeschichte leider einer ausführlichen Wiedergabe entzieht.

Frau Cäcilie litt unter anderen Dingen an einer überaus heftigen Gesichtsneuralgie, die 2-3mal im Jahr plötzlich auftrat, 5-10 Tage anhielt, jeder Therapie trotzte und dann wie abgeschnitten aufhörte. Sie beschränkte sich auf den zweiten und dritten Ast des einen Trigeminus, und da Uraturie zweifellos war, und ein nicht ganz klarer "Rheumatismus acutus" in der Geschichte der Kranken eine gewisse Rolle spielte, lag die Auffassung einer gichtischen Neuralgie nahe genug. Diese Auffassung wurde auch von den Consiliarärzten, die jeden Anfall zu sehen bekamen, getheilt; die Neuralgie sollte mit den gebräuchlichen Methoden: elektrische Pinselung, alkalische Wässer. Abführmittel, behandelt werden, blieb aber jedesmal unbeeinflusst, bis es ihr beliebte, einem anderen Symptom den Platz zu räumen. In früheren Jahren - die Neuralgie war 15 Jahre alt - waren die Zähne beschuldigt worden, diese Neuralgie zu unterhalten; sie wurden zur Extraction verurtheilt, und eines schönes Tages wurde in der Narkose die Execution an 7 der Missethäter vollzogen. Das gieng nicht so leicht ab; die Zähne sassen so fest, dass von den meisten die Wurzeln zurückgelassen werden mussten. Erfolg hatte diese grausame Operation keinen, weder zeitweiligen noch dauernden. Die Neuralgie tobte damals Monate lang. Auch zur Zeit meiner Behandlung wurde bei jeder Neuralgie der Zahnarzt geholt; er erklärte jedesmal kranke Wurzeln zu finden, begann sich an die Arbeit zu machen, wurde aber gewöhnlich bald unterbrochen, denn die Neuralgie hörte plötzlich auf und mit ihr das Verlangen nach dem Zahnarzt. In den Intervallen thaten die Zähne gar nicht weh. Eines Tages, als gerade wieder ein Anfall wüthete, wurde ich von der Kranken zur hypnotischen Behandlung veranlasst, ich legte auf die Schmerzen ein sehr energisches Verbot, und sie hörten von diesem Moment an auf. Ich begann damals, Zweifel an der Echtheit dieser Neuralgie zu nähren.

Etwa ein Jahr nach diesem hypnotischen Heilerfolg nahm der Krankheitszustand der Frau Cäcilie eine neue und überraschende Wendung. Es kamen plötzlich andere Zustände, als sie den letzten Jahren eigen gewesen waren, aber die Kranke erklärte nach einigem Besinnen, dass alle diese Zustände bei ihr früher einmal dagewesen

ihrer Hysterie nachweisbar ist. Die schönsten Beispiele von Symbolisirung habe ich bei Frau Cäcilie M. beobachtet, die ich meinen schwersten und lehrreichsten Fall von Hysterie nennen darf. Ich habe bereits angedeutet, dass sich diese Krankengeschichte leider einer ausführlichen Wiedergabe entzieht.

Frau Cäcilie litt unter anderen Dingen an einer überaus heftigen Gesichtsneuralgie, die 2–3mal im Jahr plötzlich auftrat, 5–10 Tage anhielt, jeder Therapie trotzte und dann wie abgeschnitten aufhörte. Sie beschränkte sich auf den zweiten und dritten Ast des einen Trigeminus, und da Uraturie zweifellos war, und ein nicht ganz klarer „Rheumatismus acutus“ in der Geschichte der Kranken eine gewisse Rolle spielte, lag die Auffassung einer gichtischen Neuralgie nahe genug. Diese Auffassung wurde auch von den Consiliarärzten, die jeden Anfall zu sehen bekamen, getheilt; die Neuralgie sollte mit den gebräuchlichen Methoden: elektrische Pinselung, alkalische Wässer. Abführmittel, behandelt werden, blieb aber jedesmal unbeeinflusst, bis es ihr beliebte, einem anderen Symptom den Platz zu räumen. In früheren Jahren – die Neuralgie war 15 Jahre alt – waren die Zähne beschuldigt worden, diese Neuralgie zu unterhalten; sie wurden zur Extraction verurtheilt, und eines schönes Tages wurde in der Narkose die Execution an 7 der Missethäter vollzogen. Das gieng nicht so leicht ab; die Zähne sassen so fest, dass von den meisten die Wurzeln zurückgelassen werden mussten. Erfolg hatte diese grausame Operation keinen, weder zeitweiligen noch dauernden. Die Neuralgie tobte damals Monate lang. Auch zur Zeit meiner Behandlung wurde bei jeder Neuralgie der Zahnarzt geholt; er erklärte jedesmal kranke Wurzeln zu finden, begann sich an die Arbeit zu machen, wurde aber gewöhnlich bald unterbrochen, denn die Neuralgie hörte plötzlich auf und mit ihr das Verlangen nach dem Zahnarzt. In den Intervallen thaten die Zähne gar nicht weh. Eines Tages, als gerade wieder ein Anfall wüthete, wurde ich von der Kranken zur hypnotischen Behandlung veranlasst, ich legte auf die Schmerzen ein sehr energisches Verbot, und sie hörten von diesem Moment an auf. Ich begann damals, Zweifel an der Echtheit dieser Neuralgie zu nähren.

Etwa ein Jahr nach diesem hypnotischen Heilerfolg nahm der Krankheitszustand der Frau Cäcilie eine neue und überraschende Wendung. Es kamen plötzlich andere Zustände, als sie den letzten Jahren eigen gewesen waren, aber die Kranke erklärte nach einigem Besinnen, dass alle diese Zustände bei ihr früher einmal dagewesen

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[155/0161] ihrer Hysterie nachweisbar ist. Die schönsten Beispiele von Symbolisirung habe ich bei Frau Cäcilie M. beobachtet, die ich meinen schwersten und lehrreichsten Fall von Hysterie nennen darf. Ich habe bereits angedeutet, dass sich diese Krankengeschichte leider einer ausführlichen Wiedergabe entzieht. Frau Cäcilie litt unter anderen Dingen an einer überaus heftigen Gesichtsneuralgie, die 2–3mal im Jahr plötzlich auftrat, 5–10 Tage anhielt, jeder Therapie trotzte und dann wie abgeschnitten aufhörte. Sie beschränkte sich auf den zweiten und dritten Ast des einen Trigeminus, und da Uraturie zweifellos war, und ein nicht ganz klarer „Rheumatismus acutus“ in der Geschichte der Kranken eine gewisse Rolle spielte, lag die Auffassung einer gichtischen Neuralgie nahe genug. Diese Auffassung wurde auch von den Consiliarärzten, die jeden Anfall zu sehen bekamen, getheilt; die Neuralgie sollte mit den gebräuchlichen Methoden: elektrische Pinselung, alkalische Wässer. Abführmittel, behandelt werden, blieb aber jedesmal unbeeinflusst, bis es ihr beliebte, einem anderen Symptom den Platz zu räumen. In früheren Jahren – die Neuralgie war 15 Jahre alt – waren die Zähne beschuldigt worden, diese Neuralgie zu unterhalten; sie wurden zur Extraction verurtheilt, und eines schönes Tages wurde in der Narkose die Execution an 7 der Missethäter vollzogen. Das gieng nicht so leicht ab; die Zähne sassen so fest, dass von den meisten die Wurzeln zurückgelassen werden mussten. Erfolg hatte diese grausame Operation keinen, weder zeitweiligen noch dauernden. Die Neuralgie tobte damals Monate lang. Auch zur Zeit meiner Behandlung wurde bei jeder Neuralgie der Zahnarzt geholt; er erklärte jedesmal kranke Wurzeln zu finden, begann sich an die Arbeit zu machen, wurde aber gewöhnlich bald unterbrochen, denn die Neuralgie hörte plötzlich auf und mit ihr das Verlangen nach dem Zahnarzt. In den Intervallen thaten die Zähne gar nicht weh. Eines Tages, als gerade wieder ein Anfall wüthete, wurde ich von der Kranken zur hypnotischen Behandlung veranlasst, ich legte auf die Schmerzen ein sehr energisches Verbot, und sie hörten von diesem Moment an auf. Ich begann damals, Zweifel an der Echtheit dieser Neuralgie zu nähren. Etwa ein Jahr nach diesem hypnotischen Heilerfolg nahm der Krankheitszustand der Frau Cäcilie eine neue und überraschende Wendung. Es kamen plötzlich andere Zustände, als sie den letzten Jahren eigen gewesen waren, aber die Kranke erklärte nach einigem Besinnen, dass alle diese Zustände bei ihr früher einmal dagewesen

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/161>, abgerufen am 27.04.2024.