Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

Bild:
<< vorherige Seite

Kein Zweifel, dass es sich hier um eine Symbolisirung gehandelt hatte; sie hatte gefühlt, als ob sie den Schlag in's Gesicht wirklich bekommen hätte. Nun wird jedermann die Frage aufwerfen, wieso wohl die Empfindung eines "Schlages in's Gesicht" zu den Aeusserlichkeiten einer Trigeminusneuralgie, zur Beschränkung auf den 2. und 3. Ast, zur Steigerung beim Mundöffnen und Kauen (nicht beim Reden!) gelangt sein mag.

Am nächsten Tag war die Neuralgie wieder da, nur liess sie sich diesmal durch die Reproduction einer anderen Scene lösen, deren Inhalt gleichfalls eine vermeintliche Beleidigung war. So ging es neun Tage lang fort; es schien sich zu ergeben, dass Jahre hindurch Kränkungen, insbesondere durch Worte, auf dem Wege der Symbolisirung neue Anfälle dieser Gesichtsneuralgie hervorgerufen hatten.

Endlich gelang es aber, auch zum ersten Anfall von Neuralgie (vor mehr als 15 Jahren) vorzudringen. Hier fand sich keine Symbolisirung, sondern eine Conversion durch Gleichzeitigkeit; es war ein schmerzlicher Anblick, bei dem ihr ein Vorwurf auftauchte, welcher sie veranlasste, eine andere Gedankenreihe zurückdrängen. Es war also ein Fall von Conflict und Abwehr; die Entstehung der Neuralgie in diesem Momente nicht weiter erklärlich, wenn man nicht annehmen wollte, dass sie damals an leichten Zahn- oder Gesichtsschmerzen gelitten, und dies war nicht unwahrscheinlich, denn sie hatte sich gerade in den ersten Monaten der ersten Gravidität befunden.

So ergab sich also als Aufklärung, dass diese Neuralgie auf dem gewöhnlichen Wege der Conversion zum Merkzeichen einer bestimmten psychischen Erregung geworden war, dass sie aber in der Folge durch associative Anklage aus dem Gedankenleben, durch symbolisirende Conversion geweckt werden konnte; eigentlich dasselbe Verhalten, das wir bei Frl. Elisabeth von R ... gefunden haben.

Ich will ein zweites Beispiel anführen, welches die Wirksamkeit der Symbolisirung unter anderen Bedingungen anschaulich machen kann: Zu einer gewissen Zeit plagte Frau Cäcilie ein heftiger Schmerz in der rechten Ferse Stiche bei jedem Schritt, die das Gehen unmöglich machten. Die Analyse führte uns dabei auf eine Zeit, in welcher sich die Patientin in einer ausländischen Heilanstalt befunden hatte. Sie war 8 Tage lang in ihrem Zimmer gelegen, sollte dann vom Hausarzt das erste Mal zur gemeinsamen Tafel abgeholt werden. Der Schmerz war in dem Moment entstanden, als die Kranke seinen Arm nahm, um

Kein Zweifel, dass es sich hier um eine Symbolisirung gehandelt hatte; sie hatte gefühlt, als ob sie den Schlag in's Gesicht wirklich bekommen hätte. Nun wird jedermann die Frage aufwerfen, wieso wohl die Empfindung eines „Schlages in's Gesicht“ zu den Aeusserlichkeiten einer Trigeminusneuralgie, zur Beschränkung auf den 2. und 3. Ast, zur Steigerung beim Mundöffnen und Kauen (nicht beim Reden!) gelangt sein mag.

Am nächsten Tag war die Neuralgie wieder da, nur liess sie sich diesmal durch die Reproduction einer anderen Scene lösen, deren Inhalt gleichfalls eine vermeintliche Beleidigung war. So ging es neun Tage lang fort; es schien sich zu ergeben, dass Jahre hindurch Kränkungen, insbesondere durch Worte, auf dem Wege der Symbolisirung neue Anfälle dieser Gesichtsneuralgie hervorgerufen hatten.

Endlich gelang es aber, auch zum ersten Anfall von Neuralgie (vor mehr als 15 Jahren) vorzudringen. Hier fand sich keine Symbolisirung, sondern eine Conversion durch Gleichzeitigkeit; es war ein schmerzlicher Anblick, bei dem ihr ein Vorwurf auftauchte, welcher sie veranlasste, eine andere Gedankenreihe zurückdrängen. Es war also ein Fall von Conflict und Abwehr; die Entstehung der Neuralgie in diesem Momente nicht weiter erklärlich, wenn man nicht annehmen wollte, dass sie damals an leichten Zahn- oder Gesichtsschmerzen gelitten, und dies war nicht unwahrscheinlich, denn sie hatte sich gerade in den ersten Monaten der ersten Gravidität befunden.

So ergab sich also als Aufklärung, dass diese Neuralgie auf dem gewöhnlichen Wege der Conversion zum Merkzeichen einer bestimmten psychischen Erregung geworden war, dass sie aber in der Folge durch associative Anklage aus dem Gedankenleben, durch symbolisirende Conversion geweckt werden konnte; eigentlich dasselbe Verhalten, das wir bei Frl. Elisabeth von R ... gefunden haben.

Ich will ein zweites Beispiel anführen, welches die Wirksamkeit der Symbolisirung unter anderen Bedingungen anschaulich machen kann: Zu einer gewissen Zeit plagte Frau Cäcilie ein heftiger Schmerz in der rechten Ferse Stiche bei jedem Schritt, die das Gehen unmöglich machten. Die Analyse führte uns dabei auf eine Zeit, in welcher sich die Patientin in einer ausländischen Heilanstalt befunden hatte. Sie war 8 Tage lang in ihrem Zimmer gelegen, sollte dann vom Hausarzt das erste Mal zur gemeinsamen Tafel abgeholt werden. Der Schmerz war in dem Moment entstanden, als die Kranke seinen Arm nahm, um

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div>
            <pb facs="#f0163" n="157"/>
            <p>Kein Zweifel, dass es sich hier um eine Symbolisirung gehandelt hatte; sie hatte gefühlt, als ob sie den Schlag in's Gesicht wirklich bekommen hätte. Nun wird jedermann die Frage aufwerfen, wieso wohl die Empfindung eines &#x201E;Schlages in's Gesicht&#x201C; zu den Aeusserlichkeiten einer Trigeminusneuralgie, zur Beschränkung auf den 2. und 3. Ast, zur Steigerung beim Mundöffnen und Kauen (nicht beim Reden!) gelangt sein mag.</p>
            <p>Am nächsten Tag war die Neuralgie wieder da, nur liess sie sich diesmal durch die Reproduction einer anderen Scene lösen, deren Inhalt gleichfalls eine vermeintliche Beleidigung war. So ging es neun Tage lang fort; es schien sich zu ergeben, dass Jahre hindurch Kränkungen, insbesondere durch Worte, auf dem Wege der Symbolisirung neue Anfälle dieser Gesichtsneuralgie hervorgerufen hatten.</p>
            <p>Endlich gelang es aber, auch zum ersten Anfall von Neuralgie (vor mehr als 15 Jahren) vorzudringen. Hier fand sich keine Symbolisirung, sondern eine Conversion durch Gleichzeitigkeit; es war ein schmerzlicher Anblick, bei dem ihr ein Vorwurf auftauchte, welcher sie veranlasste, eine andere Gedankenreihe zurückdrängen. Es war also ein Fall von Conflict und Abwehr; die Entstehung der Neuralgie in diesem Momente nicht weiter erklärlich, wenn man nicht annehmen wollte, dass sie damals an leichten Zahn- oder Gesichtsschmerzen gelitten, und dies war nicht unwahrscheinlich, denn sie hatte sich gerade in den ersten Monaten der ersten Gravidität befunden.</p>
            <p>So ergab sich also als Aufklärung, dass diese Neuralgie auf dem gewöhnlichen Wege der Conversion zum Merkzeichen einer bestimmten psychischen Erregung geworden war, dass sie aber in der Folge durch associative Anklage aus dem Gedankenleben, durch symbolisirende Conversion geweckt werden konnte; eigentlich dasselbe Verhalten, das wir bei Frl. Elisabeth von R ... gefunden haben.</p>
            <p>Ich will ein zweites Beispiel anführen, welches die Wirksamkeit der Symbolisirung unter anderen Bedingungen anschaulich machen kann: Zu einer gewissen Zeit plagte Frau Cäcilie ein heftiger Schmerz in der rechten Ferse Stiche bei jedem Schritt, die das Gehen unmöglich machten. Die Analyse führte uns dabei auf eine Zeit, in welcher sich die Patientin in einer ausländischen Heilanstalt befunden hatte. Sie war 8 Tage lang in ihrem Zimmer gelegen, sollte dann vom Hausarzt das erste Mal zur gemeinsamen Tafel abgeholt werden. Der Schmerz war in dem Moment entstanden, als die Kranke seinen Arm nahm, um
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[157/0163] Kein Zweifel, dass es sich hier um eine Symbolisirung gehandelt hatte; sie hatte gefühlt, als ob sie den Schlag in's Gesicht wirklich bekommen hätte. Nun wird jedermann die Frage aufwerfen, wieso wohl die Empfindung eines „Schlages in's Gesicht“ zu den Aeusserlichkeiten einer Trigeminusneuralgie, zur Beschränkung auf den 2. und 3. Ast, zur Steigerung beim Mundöffnen und Kauen (nicht beim Reden!) gelangt sein mag. Am nächsten Tag war die Neuralgie wieder da, nur liess sie sich diesmal durch die Reproduction einer anderen Scene lösen, deren Inhalt gleichfalls eine vermeintliche Beleidigung war. So ging es neun Tage lang fort; es schien sich zu ergeben, dass Jahre hindurch Kränkungen, insbesondere durch Worte, auf dem Wege der Symbolisirung neue Anfälle dieser Gesichtsneuralgie hervorgerufen hatten. Endlich gelang es aber, auch zum ersten Anfall von Neuralgie (vor mehr als 15 Jahren) vorzudringen. Hier fand sich keine Symbolisirung, sondern eine Conversion durch Gleichzeitigkeit; es war ein schmerzlicher Anblick, bei dem ihr ein Vorwurf auftauchte, welcher sie veranlasste, eine andere Gedankenreihe zurückdrängen. Es war also ein Fall von Conflict und Abwehr; die Entstehung der Neuralgie in diesem Momente nicht weiter erklärlich, wenn man nicht annehmen wollte, dass sie damals an leichten Zahn- oder Gesichtsschmerzen gelitten, und dies war nicht unwahrscheinlich, denn sie hatte sich gerade in den ersten Monaten der ersten Gravidität befunden. So ergab sich also als Aufklärung, dass diese Neuralgie auf dem gewöhnlichen Wege der Conversion zum Merkzeichen einer bestimmten psychischen Erregung geworden war, dass sie aber in der Folge durch associative Anklage aus dem Gedankenleben, durch symbolisirende Conversion geweckt werden konnte; eigentlich dasselbe Verhalten, das wir bei Frl. Elisabeth von R ... gefunden haben. Ich will ein zweites Beispiel anführen, welches die Wirksamkeit der Symbolisirung unter anderen Bedingungen anschaulich machen kann: Zu einer gewissen Zeit plagte Frau Cäcilie ein heftiger Schmerz in der rechten Ferse Stiche bei jedem Schritt, die das Gehen unmöglich machten. Die Analyse führte uns dabei auf eine Zeit, in welcher sich die Patientin in einer ausländischen Heilanstalt befunden hatte. Sie war 8 Tage lang in ihrem Zimmer gelegen, sollte dann vom Hausarzt das erste Mal zur gemeinsamen Tafel abgeholt werden. Der Schmerz war in dem Moment entstanden, als die Kranke seinen Arm nahm, um

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-26T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-26T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-26T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/163
Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/163>, abgerufen am 27.04.2024.