Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

an das Herz schleicht, es umspinnt, es weckt, es füllt
bis auf die letzte Falte; die alle Ansprüche verdrängt,
alle Wünsche überbietet, die ohne es zu ahnen, die
alte Umgebung verwandelt, die verlebte Gewohnheit
umbildet, die breite Fülle der Gegenwart, junge Ge¬
schlechter, natürliche Freuden und das Walten der
Liebe an die Stelle der erstarrenden Regel setzt.

Meine liebe Hardine, wer ist dem Anderen mehr
schuldig geworden, die hülflose Waise, die in dem Hause
der reichen alten Frau eine Kindesstelle fand; oder
ist es die reiche, alte Frau, die durch das Bettlerkind Ju¬
gend, Liebe und Freude hat kennen lernen, die durch
dieses Kind eine beglückte Mutter und erst ein Weib
geworden ist?

In einen einsamen Born, kühl und durchsichtig
wie ein Crystall, da ist einmal ein Staubkorn gefal¬
len, das Samenkorn einer Blüthe, die Niemand blühen
sah. Lange, lange Jahre hat es auf dem Grunde
geruht, und plötzlich treibt es verwandelt empor, und
es trübt sich der klare Spiegel. Aber des Himmels
Lichter brechen sich farbig in der verdunkelten Fläche;
ein erster grüner Keim drängt über sie hinaus; bald
ragt ein Blatt in die Höhe, bald eine blaue Blume
von anlockendem Duft; es lebt und webt in dem ein¬

an das Herz ſchleicht, es umſpinnt, es weckt, es füllt
bis auf die letzte Falte; die alle Anſprüche verdrängt,
alle Wünſche überbietet, die ohne es zu ahnen, die
alte Umgebung verwandelt, die verlebte Gewohnheit
umbildet, die breite Fülle der Gegenwart, junge Ge¬
ſchlechter, natürliche Freuden und das Walten der
Liebe an die Stelle der erſtarrenden Regel ſetzt.

Meine liebe Hardine, wer iſt dem Anderen mehr
ſchuldig geworden, die hülfloſe Waiſe, die in dem Hauſe
der reichen alten Frau eine Kindesſtelle fand; oder
iſt es die reiche, alte Frau, die durch das Bettlerkind Ju¬
gend, Liebe und Freude hat kennen lernen, die durch
dieſes Kind eine beglückte Mutter und erſt ein Weib
geworden iſt?

In einen einſamen Born, kühl und durchſichtig
wie ein Cryſtall, da iſt einmal ein Staubkorn gefal¬
len, das Samenkorn einer Blüthe, die Niemand blühen
ſah. Lange, lange Jahre hat es auf dem Grunde
geruht, und plötzlich treibt es verwandelt empor, und
es trübt ſich der klare Spiegel. Aber des Himmels
Lichter brechen ſich farbig in der verdunkelten Fläche;
ein erſter grüner Keim drängt über ſie hinaus; bald
ragt ein Blatt in die Höhe, bald eine blaue Blume
von anlockendem Duft; es lebt und webt in dem ein¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0259" n="255"/>
an das Herz &#x017F;chleicht, es um&#x017F;pinnt, es weckt, es füllt<lb/>
bis auf die letzte Falte; die alle An&#x017F;prüche verdrängt,<lb/>
alle Wün&#x017F;che überbietet, die ohne es zu ahnen, die<lb/>
alte Umgebung verwandelt, die verlebte Gewohnheit<lb/>
umbildet, die breite Fülle der Gegenwart, junge Ge¬<lb/>
&#x017F;chlechter, natürliche Freuden und das Walten der<lb/>
Liebe an die Stelle der er&#x017F;tarrenden Regel &#x017F;etzt.</p><lb/>
        <p>Meine liebe Hardine, wer i&#x017F;t dem Anderen mehr<lb/>
&#x017F;chuldig geworden, die hülflo&#x017F;e Wai&#x017F;e, die in dem Hau&#x017F;e<lb/>
der reichen alten Frau eine Kindes&#x017F;telle fand; oder<lb/>
i&#x017F;t es die reiche, alte Frau, die durch das Bettlerkind Ju¬<lb/>
gend, Liebe und Freude hat kennen lernen, die durch<lb/>
die&#x017F;es Kind eine beglückte Mutter und er&#x017F;t ein Weib<lb/>
geworden i&#x017F;t?</p><lb/>
        <p>In einen ein&#x017F;amen Born, kühl und durch&#x017F;ichtig<lb/>
wie ein Cry&#x017F;tall, da i&#x017F;t einmal ein Staubkorn gefal¬<lb/>
len, das Samenkorn einer Blüthe, die Niemand blühen<lb/>
&#x017F;ah. Lange, lange Jahre hat es auf dem Grunde<lb/>
geruht, und plötzlich treibt es verwandelt empor, und<lb/>
es trübt &#x017F;ich der klare Spiegel. Aber des Himmels<lb/>
Lichter brechen &#x017F;ich farbig in der verdunkelten Fläche;<lb/>
ein er&#x017F;ter grüner Keim drängt über &#x017F;ie hinaus; bald<lb/>
ragt ein Blatt in die Höhe, bald eine blaue Blume<lb/>
von anlockendem Duft; es lebt und webt in dem ein¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[255/0259] an das Herz ſchleicht, es umſpinnt, es weckt, es füllt bis auf die letzte Falte; die alle Anſprüche verdrängt, alle Wünſche überbietet, die ohne es zu ahnen, die alte Umgebung verwandelt, die verlebte Gewohnheit umbildet, die breite Fülle der Gegenwart, junge Ge¬ ſchlechter, natürliche Freuden und das Walten der Liebe an die Stelle der erſtarrenden Regel ſetzt. Meine liebe Hardine, wer iſt dem Anderen mehr ſchuldig geworden, die hülfloſe Waiſe, die in dem Hauſe der reichen alten Frau eine Kindesſtelle fand; oder iſt es die reiche, alte Frau, die durch das Bettlerkind Ju¬ gend, Liebe und Freude hat kennen lernen, die durch dieſes Kind eine beglückte Mutter und erſt ein Weib geworden iſt? In einen einſamen Born, kühl und durchſichtig wie ein Cryſtall, da iſt einmal ein Staubkorn gefal¬ len, das Samenkorn einer Blüthe, die Niemand blühen ſah. Lange, lange Jahre hat es auf dem Grunde geruht, und plötzlich treibt es verwandelt empor, und es trübt ſich der klare Spiegel. Aber des Himmels Lichter brechen ſich farbig in der verdunkelten Fläche; ein erſter grüner Keim drängt über ſie hinaus; bald ragt ein Blatt in die Höhe, bald eine blaue Blume von anlockendem Duft; es lebt und webt in dem ein¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/259
Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/259>, abgerufen am 16.04.2024.