an das Herz schleicht, es umspinnt, es weckt, es füllt bis auf die letzte Falte; die alle Ansprüche verdrängt, alle Wünsche überbietet, die ohne es zu ahnen, die alte Umgebung verwandelt, die verlebte Gewohnheit umbildet, die breite Fülle der Gegenwart, junge Ge¬ schlechter, natürliche Freuden und das Walten der Liebe an die Stelle der erstarrenden Regel setzt.
Meine liebe Hardine, wer ist dem Anderen mehr schuldig geworden, die hülflose Waise, die in dem Hause der reichen alten Frau eine Kindesstelle fand; oder ist es die reiche, alte Frau, die durch das Bettlerkind Ju¬ gend, Liebe und Freude hat kennen lernen, die durch dieses Kind eine beglückte Mutter und erst ein Weib geworden ist?
In einen einsamen Born, kühl und durchsichtig wie ein Crystall, da ist einmal ein Staubkorn gefal¬ len, das Samenkorn einer Blüthe, die Niemand blühen sah. Lange, lange Jahre hat es auf dem Grunde geruht, und plötzlich treibt es verwandelt empor, und es trübt sich der klare Spiegel. Aber des Himmels Lichter brechen sich farbig in der verdunkelten Fläche; ein erster grüner Keim drängt über sie hinaus; bald ragt ein Blatt in die Höhe, bald eine blaue Blume von anlockendem Duft; es lebt und webt in dem ein¬
an das Herz ſchleicht, es umſpinnt, es weckt, es füllt bis auf die letzte Falte; die alle Anſprüche verdrängt, alle Wünſche überbietet, die ohne es zu ahnen, die alte Umgebung verwandelt, die verlebte Gewohnheit umbildet, die breite Fülle der Gegenwart, junge Ge¬ ſchlechter, natürliche Freuden und das Walten der Liebe an die Stelle der erſtarrenden Regel ſetzt.
Meine liebe Hardine, wer iſt dem Anderen mehr ſchuldig geworden, die hülfloſe Waiſe, die in dem Hauſe der reichen alten Frau eine Kindesſtelle fand; oder iſt es die reiche, alte Frau, die durch das Bettlerkind Ju¬ gend, Liebe und Freude hat kennen lernen, die durch dieſes Kind eine beglückte Mutter und erſt ein Weib geworden iſt?
In einen einſamen Born, kühl und durchſichtig wie ein Cryſtall, da iſt einmal ein Staubkorn gefal¬ len, das Samenkorn einer Blüthe, die Niemand blühen ſah. Lange, lange Jahre hat es auf dem Grunde geruht, und plötzlich treibt es verwandelt empor, und es trübt ſich der klare Spiegel. Aber des Himmels Lichter brechen ſich farbig in der verdunkelten Fläche; ein erſter grüner Keim drängt über ſie hinaus; bald ragt ein Blatt in die Höhe, bald eine blaue Blume von anlockendem Duft; es lebt und webt in dem ein¬
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an das Herz ſchleicht, es umſpinnt, es weckt, es füllt
bis auf die letzte Falte; die alle Anſprüche verdrängt,
alle Wünſche überbietet, die ohne es zu ahnen, die
alte Umgebung verwandelt, die verlebte Gewohnheit
umbildet, die breite Fülle der Gegenwart, junge Ge¬
ſchlechter, natürliche Freuden und das Walten der
Liebe an die Stelle der erſtarrenden Regel ſetzt.
Meine liebe Hardine, wer iſt dem Anderen mehr
ſchuldig geworden, die hülfloſe Waiſe, die in dem Hauſe
der reichen alten Frau eine Kindesſtelle fand; oder
iſt es die reiche, alte Frau, die durch das Bettlerkind Ju¬
gend, Liebe und Freude hat kennen lernen, die durch
dieſes Kind eine beglückte Mutter und erſt ein Weib
geworden iſt?
In einen einſamen Born, kühl und durchſichtig
wie ein Cryſtall, da iſt einmal ein Staubkorn gefal¬
len, das Samenkorn einer Blüthe, die Niemand blühen
ſah. Lange, lange Jahre hat es auf dem Grunde
geruht, und plötzlich treibt es verwandelt empor, und
es trübt ſich der klare Spiegel. Aber des Himmels
Lichter brechen ſich farbig in der verdunkelten Fläche;
ein erſter grüner Keim drängt über ſie hinaus; bald
ragt ein Blatt in die Höhe, bald eine blaue Blume
von anlockendem Duft; es lebt und webt in dem ein¬
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/259>, abgerufen am 16.02.2025.
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