Aber nicht bloß bei diesen Auserwählten, auch im Alltagslauf zeigt sich wohl eine beschränktere, aber keine abweichende Entwickelungsart: Freude, Wünsche, Sehnsucht, Anschluß in der Jugend, und im Alter Entsagen, Vereinsamen, bescheidenes Zurückziehen in den Beruf, in den Mechanismus der Stunde und bei den Glücklichsten unter uns: in die Religion.
Mich hatten Natur und Schicksal den entgegen¬ gesetzten Weg geführt. Kaum den Kinderschuhen ent¬ wachsen, trat ich ohne Tanz und Spiel, ohne Ge¬ nossen, ohne Streit, außer dem flüchtigen mit einem Traumgespinnst, ohne weitabführende Irrung, trat ich in einen männlichen Beruf, in ein Wirken für Andere mehr als für mich selbst, und fühlte mich durch dieses Wirken beglückt bis in die Matronenjahre hinein. Erst in dem Alter, wo Andere weiße Haare tragen, regte sich der versäumte Jugendsinn, regte sich ein unbe¬ stimmtes Bedürfen, das über das Schaffen hinaus, mich einem natürlichen Zusammenhang verbände.
Und dieses späte, kaum verstandene Bedürfen, es wird gestillt wie durch ein Wunder. Aus der gesamm¬ ten, reichen Welt, die mir die Auswahl bietet, ist es die verlassenste, die armseligste Creatur, ein Stein des Anstoßes auf meinen Weg geschleudert, die sich mir
Aber nicht bloß bei dieſen Auserwählten, auch im Alltagslauf zeigt ſich wohl eine beſchränktere, aber keine abweichende Entwickelungsart: Freude, Wünſche, Sehnſucht, Anſchluß in der Jugend, und im Alter Entſagen, Vereinſamen, beſcheidenes Zurückziehen in den Beruf, in den Mechanismus der Stunde und bei den Glücklichſten unter uns: in die Religion.
Mich hatten Natur und Schickſal den entgegen¬ geſetzten Weg geführt. Kaum den Kinderſchuhen ent¬ wachſen, trat ich ohne Tanz und Spiel, ohne Ge¬ noſſen, ohne Streit, außer dem flüchtigen mit einem Traumgeſpinnſt, ohne weitabführende Irrung, trat ich in einen männlichen Beruf, in ein Wirken für Andere mehr als für mich ſelbſt, und fühlte mich durch dieſes Wirken beglückt bis in die Matronenjahre hinein. Erſt in dem Alter, wo Andere weiße Haare tragen, regte ſich der verſäumte Jugendſinn, regte ſich ein unbe¬ ſtimmtes Bedürfen, das über das Schaffen hinaus, mich einem natürlichen Zuſammenhang verbände.
Und dieſes ſpäte, kaum verſtandene Bedürfen, es wird geſtillt wie durch ein Wunder. Aus der geſamm¬ ten, reichen Welt, die mir die Auswahl bietet, iſt es die verlaſſenſte, die armſeligſte Creatur, ein Stein des Anſtoßes auf meinen Weg geſchleudert, die ſich mir
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Aber nicht bloß bei dieſen Auserwählten, auch im
Alltagslauf zeigt ſich wohl eine beſchränktere, aber
keine abweichende Entwickelungsart: Freude, Wünſche,
Sehnſucht, Anſchluß in der Jugend, und im Alter
Entſagen, Vereinſamen, beſcheidenes Zurückziehen in
den Beruf, in den Mechanismus der Stunde und bei
den Glücklichſten unter uns: in die Religion.
Mich hatten Natur und Schickſal den entgegen¬
geſetzten Weg geführt. Kaum den Kinderſchuhen ent¬
wachſen, trat ich ohne Tanz und Spiel, ohne Ge¬
noſſen, ohne Streit, außer dem flüchtigen mit einem
Traumgeſpinnſt, ohne weitabführende Irrung, trat ich
in einen männlichen Beruf, in ein Wirken für Andere
mehr als für mich ſelbſt, und fühlte mich durch dieſes
Wirken beglückt bis in die Matronenjahre hinein. Erſt
in dem Alter, wo Andere weiße Haare tragen, regte
ſich der verſäumte Jugendſinn, regte ſich ein unbe¬
ſtimmtes Bedürfen, das über das Schaffen hinaus,
mich einem natürlichen Zuſammenhang verbände.
Und dieſes ſpäte, kaum verſtandene Bedürfen, es
wird geſtillt wie durch ein Wunder. Aus der geſamm¬
ten, reichen Welt, die mir die Auswahl bietet, iſt es
die verlaſſenſte, die armſeligſte Creatur, ein Stein des
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/258>, abgerufen am 16.02.2025.
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