Christkinde, die sie heute zum erstenmale von freund¬ lichen Lippen gehört und im Bilde geschaut hatte und in dem alten Herzen regte sich zum erstenmale das Ahnen der Gotteserscheinung nicht blos in dem Einen gnadenreichen, aber in jedem hülflosen Menschen¬ kinde.
"Die Kleine ist nicht idiot," sagte ich, als ich vor Schlafengehen sie mit purpurnen Wangen und raschem, kräftigem Athem in ihrem Bettchen liegen sah, "aber sie braucht Erregung und Freude."
Trotz der Sabbathfeier stellte am ersten Festtage ein Lehrmeister auf Schloß Reckenburg sich ein. Nord¬ heim junior, als Substitut für seinen vielbeschäftig¬ ten Herrn Papa. Und als der Substitut am Feste Epi¬ phanias seine Würde niederlegte, da wußte das Wun¬ derkind zwölf Märchenstücklein und sämmtliche Buch¬ staben, wie auch Grundzahlen am Schnürchen herzu¬ sagen. Der Fortschritt erlahmte ein wenig unter der Methode des älteren Professors, regelmäßig aber wäh¬ rend der festlichen Ferienzeit rannte er mit Sieben¬ meilenstiefeln voran, namentlich in der rhetorischen Kunst. Als das verhängnißvolle Königsfest jährig ward, da dachte ich nicht mehr daran, die kleine An¬ wärterin des Kochlöffels in einer braven Predigerfa¬
Chriſtkinde, die ſie heute zum erſtenmale von freund¬ lichen Lippen gehört und im Bilde geſchaut hatte und in dem alten Herzen regte ſich zum erſtenmale das Ahnen der Gotteserſcheinung nicht blos in dem Einen gnadenreichen, aber in jedem hülfloſen Menſchen¬ kinde.
„Die Kleine iſt nicht idiot,“ ſagte ich, als ich vor Schlafengehen ſie mit purpurnen Wangen und raſchem, kräftigem Athem in ihrem Bettchen liegen ſah, „aber ſie braucht Erregung und Freude.“
Trotz der Sabbathfeier ſtellte am erſten Feſttage ein Lehrmeiſter auf Schloß Reckenburg ſich ein. Nord¬ heim junior, als Subſtitut für ſeinen vielbeſchäftig¬ ten Herrn Papa. Und als der Subſtitut am Feſte Epi¬ phanias ſeine Würde niederlegte, da wußte das Wun¬ derkind zwölf Märchenſtücklein und ſämmtliche Buch¬ ſtaben, wie auch Grundzahlen am Schnürchen herzu¬ ſagen. Der Fortſchritt erlahmte ein wenig unter der Methode des älteren Profeſſors, regelmäßig aber wäh¬ rend der feſtlichen Ferienzeit rannte er mit Sieben¬ meilenſtiefeln voran, namentlich in der rhetoriſchen Kunſt. Als das verhängnißvolle Königsfeſt jährig ward, da dachte ich nicht mehr daran, die kleine An¬ wärterin des Kochlöffels in einer braven Predigerfa¬
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Chriſtkinde, die ſie heute zum erſtenmale von freund¬
lichen Lippen gehört und im Bilde geſchaut hatte und
in dem alten Herzen regte ſich zum erſtenmale das
Ahnen der Gotteserſcheinung nicht blos in dem Einen
gnadenreichen, aber in jedem hülfloſen Menſchen¬
kinde.
„Die Kleine iſt nicht idiot,“ ſagte ich, als ich
vor Schlafengehen ſie mit purpurnen Wangen und
raſchem, kräftigem Athem in ihrem Bettchen liegen
ſah, „aber ſie braucht Erregung und Freude.“
Trotz der Sabbathfeier ſtellte am erſten Feſttage
ein Lehrmeiſter auf Schloß Reckenburg ſich ein. Nord¬
heim junior, als Subſtitut für ſeinen vielbeſchäftig¬
ten Herrn Papa. Und als der Subſtitut am Feſte Epi¬
phanias ſeine Würde niederlegte, da wußte das Wun¬
derkind zwölf Märchenſtücklein und ſämmtliche Buch¬
ſtaben, wie auch Grundzahlen am Schnürchen herzu¬
ſagen. Der Fortſchritt erlahmte ein wenig unter der
Methode des älteren Profeſſors, regelmäßig aber wäh¬
rend der feſtlichen Ferienzeit rannte er mit Sieben¬
meilenſtiefeln voran, namentlich in der rhetoriſchen
Kunſt. Als das verhängnißvolle Königsfeſt jährig
ward, da dachte ich nicht mehr daran, die kleine An¬
wärterin des Kochlöffels in einer braven Predigerfa¬
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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/256>, abgerufen am 16.02.2025.
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