Ort oder Zeit gebunden? und sucht sie auf dem dunkelsten Fleck der Erde umsonst nach dem Echo einer warmen Brust? Verläugnet die Natur ihr unsterbliches Walten in ir- gend einem Moment der Zeit? Schlummert die ewige Bildnerin, daß wir nicht von ihr wüßten? Und soll die Gegenwart weniger empfänglich für ihre heilige Offenbarungen sein, als die Vergangenheit? Spricht nun Gott heute wie gestern durch sie zu den Ge- schlechtern, und erkennen wir die Ziffern sei- ner Sprache, wie mögen wir anders über eine unpoentische Zeit klagen, als daß wir uns vor der einzig wahren, der lebendigen Poensie verschließen? Aus diesem Grunde vielleicht, und weil der Duft der Ferne an sich magisch ist, flüchtet die Einbildungskraft zu der Vergangenheit, und ruft mit ihrem Zauberstabe Todte an das Licht. Finden wir jedoch Herzen in der Brust der Widerbeleb- ten, wie sollte es diesen an Lebenswärme mangeln? Arm müßten wir die Kunst nen- nen, die nicht verstände, sie uns nahe zu brin- gen, wie einst die Natur den Mitlebenden.
Ort oder Zeit gebunden? und ſucht ſie auf dem dunkelſten Fleck der Erde umſonſt nach dem Echo einer warmen Bruſt? Verlaͤugnet die Natur ihr unſterbliches Walten in ir- gend einem Moment der Zeit? Schlummert die ewige Bildnerin, daß wir nicht von ihr wuͤßten? Und ſoll die Gegenwart weniger empfaͤnglich fuͤr ihre heilige Offenbarungen ſein, als die Vergangenheit? Spricht nun Gott heute wie geſtern durch ſie zu den Ge- ſchlechtern, und erkennen wir die Ziffern ſei- ner Sprache, wie moͤgen wir anders uͤber eine unpoẽtiſche Zeit klagen, als daß wir uns vor der einzig wahren, der lebendigen Poẽſie verſchließen? Aus dieſem Grunde vielleicht, und weil der Duft der Ferne an ſich magiſch iſt, fluͤchtet die Einbildungskraft zu der Vergangenheit, und ruft mit ihrem Zauberſtabe Todte an das Licht. Finden wir jedoch Herzen in der Bruſt der Widerbeleb- ten, wie ſollte es dieſen an Lebenswaͤrme mangeln? Arm muͤßten wir die Kunſt nen- nen, die nicht verſtaͤnde, ſie uns nahe zu brin- gen, wie einſt die Natur den Mitlebenden.
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Ort oder Zeit gebunden? und ſucht ſie auf
dem dunkelſten Fleck der Erde umſonſt nach
dem Echo einer warmen Bruſt? Verlaͤugnet
die Natur ihr unſterbliches Walten in ir-
gend einem Moment der Zeit? Schlummert
die ewige Bildnerin, daß wir nicht von ihr
wuͤßten? Und ſoll die Gegenwart weniger
empfaͤnglich fuͤr ihre heilige Offenbarungen
ſein, als die Vergangenheit? Spricht nun
Gott heute wie geſtern durch ſie zu den Ge-
ſchlechtern, und erkennen wir die Ziffern ſei-
ner Sprache, wie moͤgen wir anders uͤber
eine unpoẽtiſche Zeit klagen, als daß wir
uns vor der einzig wahren, der lebendigen
Poẽſie verſchließen? Aus dieſem Grunde
vielleicht, und weil der Duft der Ferne an
ſich magiſch iſt, fluͤchtet die Einbildungskraft
zu der Vergangenheit, und ruft mit ihrem
Zauberſtabe Todte an das Licht. Finden wir
jedoch Herzen in der Bruſt der Widerbeleb-
ten, wie ſollte es dieſen an Lebenswaͤrme
mangeln? Arm muͤßten wir die Kunſt nen-
nen, die nicht verſtaͤnde, ſie uns nahe zu brin-
gen, wie einſt die Natur den Mitlebenden.
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Fouqué, Caroline de La Motte-: Die Frauen in der großen Welt. Berlin, 1826, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fouque_frauen_1826/75>, abgerufen am 25.11.2024.
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