lich, oder zu unruhig und hitzig im Verfol- gen des vorgesteckten Zieles sei, und die Zweige derselben Wurzel nicht überall voll- ständige Blüthen trieben, Geist und Gedan- ken verläugneten dennoch ihren Ursprung nicht; und so lasse man denn das Mißlun- gene bei Seite und bleibe in dem Gelunge- nen sich selbst und dem Autor treu. Die Beschränkung der Auswahl wird der Pro- ductivität kein Hinderniß sein, denn was nach dem Vollkommenen strebet, genügt sich niemals und fordert, durch den innern Trieb bedingt, nach wechselnder Gestaltung.
Was nun den Character, den Stand- punkt, die Zeit- und Raumverhältnisse der Letzteren anbetrifft, so scheint mir es die Poensie zu entwürdigen, wenn man dieser ei- nen Kreis ziehen wollte, innerhalb desselben sie nur ihr Reich behaupten könne. Bebt nicht oft unser ganzes Wesen von der Be- rührung eines einzigen Tones, der die Thore der unsichtbaren Welt sprengt, und die Seele aus dem Abgrund von Wehmuth in die Himmel der Seeligen erhebt? Jst Liebe an
lich, oder zu unruhig und hitzig im Verfol- gen des vorgeſteckten Zieles ſei, und die Zweige derſelben Wurzel nicht uͤberall voll- ſtaͤndige Bluͤthen trieben, Geiſt und Gedan- ken verlaͤugneten dennoch ihren Urſprung nicht; und ſo laſſe man denn das Mißlun- gene bei Seite und bleibe in dem Gelunge- nen ſich ſelbſt und dem Autor treu. Die Beſchraͤnkung der Auswahl wird der Pro- ductivitaͤt kein Hinderniß ſein, denn was nach dem Vollkommenen ſtrebet, genuͤgt ſich niemals und fordert, durch den innern Trieb bedingt, nach wechſelnder Geſtaltung.
Was nun den Character, den Stand- punkt, die Zeit- und Raumverhaͤltniſſe der Letzteren anbetrifft, ſo ſcheint mir es die Poẽſie zu entwuͤrdigen, wenn man dieſer ei- nen Kreis ziehen wollte, innerhalb deſſelben ſie nur ihr Reich behaupten koͤnne. Bebt nicht oft unſer ganzes Weſen von der Be- ruͤhrung eines einzigen Tones, der die Thore der unſichtbaren Welt ſprengt, und die Seele aus dem Abgrund von Wehmuth in die Himmel der Seeligen erhebt? Jſt Liebe an
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lich, oder zu unruhig und hitzig im Verfol-
gen des vorgeſteckten Zieles ſei, und die
Zweige derſelben Wurzel nicht uͤberall voll-
ſtaͤndige Bluͤthen trieben, Geiſt und Gedan-
ken verlaͤugneten dennoch ihren Urſprung
nicht; und ſo laſſe man denn das Mißlun-
gene bei Seite und bleibe in dem Gelunge-
nen ſich ſelbſt und dem Autor treu. Die
Beſchraͤnkung der Auswahl wird der Pro-
ductivitaͤt kein Hinderniß ſein, denn was
nach dem Vollkommenen ſtrebet, genuͤgt ſich
niemals und fordert, durch den innern Trieb
bedingt, nach wechſelnder Geſtaltung.
Was nun den Character, den Stand-
punkt, die Zeit- und Raumverhaͤltniſſe der
Letzteren anbetrifft, ſo ſcheint mir es die
Poẽſie zu entwuͤrdigen, wenn man dieſer ei-
nen Kreis ziehen wollte, innerhalb deſſelben
ſie nur ihr Reich behaupten koͤnne. Bebt
nicht oft unſer ganzes Weſen von der Be-
ruͤhrung eines einzigen Tones, der die Thore
der unſichtbaren Welt ſprengt, und die Seele
aus dem Abgrund von Wehmuth in die
Himmel der Seeligen erhebt? Jſt Liebe an
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Fouqué, Caroline de La Motte-: Die Frauen in der großen Welt. Berlin, 1826, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fouque_frauen_1826/74>, abgerufen am 25.11.2024.
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