welches unter Maaß und Gesetz stets am besten gedeihet sondern es stehet vielmehr zu hoffen, daß jenes indifferente Hinwerfen an ein zufällig Neues, der laue Wechsel mit diesem oder jenem, was wir Neigung und Vorliebe nennen, durch freudige, frische Selbstbestimmung verdrängt und die so ge- fundene Richtung eine wahrhaft und ei- gene seyn werde. Das Lesen hört dann auf, die Zeit zu tödten, es tödtet nur das Zeitliche. Der Genuß erhöhet sich, jemehr die Gegenstände desselben klarer und voll- ständiger hervortreten, und suchte man auch nichts als das Vergnügen darin, der Nut- zen bleibt nicht aus.
Fragt man nun, was ich als Autori- tät in einer Litteratur anführen könne, die heute verachtet, was sie gestern liebte? So muß ich erwiedern: Büchern ergehe es wie Menschen. So lange man mit ihnen lebt, sie in den Verschlingungen der Gegenwart verwickelt sieht, lobet und tadelt man wech- selsweise Eines um das Andere an ihnen. Sind sie aber der sinnlichen Wahrnehmung
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welches unter Maaß und Geſetz ſtets am beſten gedeihet ſondern es ſtehet vielmehr zu hoffen, daß jenes indifferente Hinwerfen an ein zufaͤllig Neues, der laue Wechſel mit dieſem oder jenem, was wir Neigung und Vorliebe nennen, durch freudige, friſche Selbſtbeſtimmung verdraͤngt und die ſo ge- fundene Richtung eine wahrhaft und ei- gene ſeyn werde. Das Leſen hoͤrt dann auf, die Zeit zu toͤdten, es toͤdtet nur das Zeitliche. Der Genuß erhoͤhet ſich, jemehr die Gegenſtaͤnde deſſelben klarer und voll- ſtaͤndiger hervortreten, und ſuchte man auch nichts als das Vergnuͤgen darin, der Nut- zen bleibt nicht aus.
Fragt man nun, was ich als Autori- taͤt in einer Litteratur anfuͤhren koͤnne, die heute verachtet, was ſie geſtern liebte? So muß ich erwiedern: Buͤchern ergehe es wie Menſchen. So lange man mit ihnen lebt, ſie in den Verſchlingungen der Gegenwart verwickelt ſieht, lobet und tadelt man wech- ſelsweiſe Eines um das Andere an ihnen. Sind ſie aber der ſinnlichen Wahrnehmung
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welches unter Maaß und Geſetz ſtets am
beſten gedeihet ſondern es ſtehet vielmehr zu
hoffen, daß jenes indifferente Hinwerfen an
ein zufaͤllig Neues, der laue Wechſel mit
dieſem oder jenem, was wir Neigung und
Vorliebe nennen, durch freudige, friſche
Selbſtbeſtimmung verdraͤngt und die ſo ge-
fundene Richtung eine wahrhaft und ei-
gene ſeyn werde. Das Leſen hoͤrt dann
auf, die Zeit zu toͤdten, es toͤdtet nur das
Zeitliche. Der Genuß erhoͤhet ſich, jemehr
die Gegenſtaͤnde deſſelben klarer und voll-
ſtaͤndiger hervortreten, und ſuchte man auch
nichts als das Vergnuͤgen darin, der Nut-
zen bleibt nicht aus.
Fragt man nun, was ich als Autori-
taͤt in einer Litteratur anfuͤhren koͤnne, die
heute verachtet, was ſie geſtern liebte? So
muß ich erwiedern: Buͤchern ergehe es wie
Menſchen. So lange man mit ihnen lebt,
ſie in den Verſchlingungen der Gegenwart
verwickelt ſieht, lobet und tadelt man wech-
ſelsweiſe Eines um das Andere an ihnen.
Sind ſie aber der ſinnlichen Wahrnehmung
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Fouqué, Caroline de La Motte-: Die Frauen in der großen Welt. Berlin, 1826, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fouque_frauen_1826/69>, abgerufen am 25.11.2024.
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