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Forster, Georg: Ansichten vom Niederrhein. Bd. 1. Berlin, 1791.

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Rufen hätte nicht, wie das Geheul des
Schreckens, ihr Antlitz entstellt. Ich ge¬
stehe gern, dass die apokryphische Erzählung
selbst zu einer solchen Begeisterung keine
unmittelbare Veranlassung giebt. Wie ent¬
deckt sich Susannens Unschuld? Ein Kna¬
be verhört die Kläger, und weil einer das
schöne Weib in den Armen ihres Liebha¬
bers unter der Linde, der andere unter der
Eiche gesehen haben will, ist das Hauptfak¬
tum, worin beide übereinstimmen, nicht
wahr! Bei solchen Gelegenheiten erinnert
man sich auch eines Baumes! Allein die
Juden in Babylon glaubten an Keuschheit,
und Daniel bewährte seine Weisheit, indem
er diesen Glauben zu Gunsten der schönen
Susanna benutzte. Es scheint übrigens nicht,
dass Dominichino auf diesen Theil der Ge¬
schichte Rücksicht genommen hat; denn
es stehen eine Menge von Bäumen verschie¬

Rufen hätte nicht, wie das Geheul des
Schreckens, ihr Antlitz entstellt. Ich ge¬
stehe gern, daſs die apokryphische Erzählung
selbst zu einer solchen Begeisterung keine
unmittelbare Veranlassung giebt. Wie ent¬
deckt sich Susannens Unschuld? Ein Kna¬
be verhört die Kläger, und weil einer das
schöne Weib in den Armen ihres Liebha¬
bers unter der Linde, der andere unter der
Eiche gesehen haben will, ist das Hauptfak¬
tum, worin beide übereinstimmen, nicht
wahr! Bei solchen Gelegenheiten erinnert
man sich auch eines Baumes! Allein die
Juden in Babylon glaubten an Keuschheit,
und Daniel bewährte seine Weisheit, indem
er diesen Glauben zu Gunsten der schönen
Susanna benutzte. Es scheint übrigens nicht,
daſs Dominichino auf diesen Theil der Ge¬
schichte Rücksicht genommen hat; denn
es stehen eine Menge von Bäumen verschie¬

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[219/0231] Rufen hätte nicht, wie das Geheul des Schreckens, ihr Antlitz entstellt. Ich ge¬ stehe gern, daſs die apokryphische Erzählung selbst zu einer solchen Begeisterung keine unmittelbare Veranlassung giebt. Wie ent¬ deckt sich Susannens Unschuld? Ein Kna¬ be verhört die Kläger, und weil einer das schöne Weib in den Armen ihres Liebha¬ bers unter der Linde, der andere unter der Eiche gesehen haben will, ist das Hauptfak¬ tum, worin beide übereinstimmen, nicht wahr! Bei solchen Gelegenheiten erinnert man sich auch eines Baumes! Allein die Juden in Babylon glaubten an Keuschheit, und Daniel bewährte seine Weisheit, indem er diesen Glauben zu Gunsten der schönen Susanna benutzte. Es scheint übrigens nicht, daſs Dominichino auf diesen Theil der Ge¬ schichte Rücksicht genommen hat; denn es stehen eine Menge von Bäumen verschie¬

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Zitationshilfe: Forster, Georg: Ansichten vom Niederrhein. Bd. 1. Berlin, 1791, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forster_niederrhein01_1791/231>, abgerufen am 27.04.2024.