dinge zu krönen, saß oben in dem kleinsten Gemache, unmittelbar unter der goldenen Kuppel, einsam eine weibliche Gestalt, die nicht ganz jenen unverhüllten Grazien glich, denn außer dem schönen, blendenden Halse, und dem jugendlichen Busen, die nur ein dünner Flor zu decken schien, und außer den weissen schwellenden Armen war sie in dichte und faltige Gewänder gehüllt. Wäre nur auch der Kopf nicht ohne Schleier geblieben: so hätte die Phantasie Freiheit behalten, sich die ganze Gestalt so reizend auszubilden, als es ihr beliebte, wozu ihr die Bewohnerinnen der unteren Gemächer die lieblichsten Modelle lieferten. Aber grade der Kopf war unverschleiert, um -- das große Straußenei mit der Larve sehen zu lassen.
Die trauernde Gestalt heftete ihre Blicke unverwandt auf eine Stelle ihres Gemaches,
dinge zu kroͤnen, ſaß oben in dem kleinſten Gemache, unmittelbar unter der goldenen Kuppel, einſam eine weibliche Geſtalt, die nicht ganz jenen unverhuͤllten Grazien glich, denn außer dem ſchoͤnen, blendenden Halſe, und dem jugendlichen Buſen, die nur ein duͤnner Flor zu decken ſchien, und außer den weiſſen ſchwellenden Armen war ſie in dichte und faltige Gewaͤnder gehuͤllt. Waͤre nur auch der Kopf nicht ohne Schleier geblieben: ſo haͤtte die Phantaſie Freiheit behalten, ſich die ganze Geſtalt ſo reizend auszubilden, als es ihr beliebte, wozu ihr die Bewohnerinnen der unteren Gemaͤcher die lieblichſten Modelle lieferten. Aber grade der Kopf war unverſchleiert, um — das große Straußenei mit der Larve ſehen zu laſſen.
Die trauernde Geſtalt heftete ihre Blicke unverwandt auf eine Stelle ihres Gemaches,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0186"n="182"/>
dinge zu kroͤnen, ſaß oben in dem kleinſten<lb/>
Gemache, unmittelbar unter der goldenen<lb/>
Kuppel, einſam eine weibliche Geſtalt, die<lb/>
nicht ganz jenen unverhuͤllten Grazien<lb/>
glich, denn außer dem ſchoͤnen, blendenden<lb/>
Halſe, und dem jugendlichen Buſen, die<lb/>
nur ein duͤnner Flor zu decken ſchien, und<lb/>
außer den weiſſen ſchwellenden Armen war<lb/>ſie in dichte und faltige Gewaͤnder gehuͤllt.<lb/>
Waͤre nur auch der Kopf nicht ohne Schleier<lb/>
geblieben: ſo haͤtte die Phantaſie Freiheit<lb/>
behalten, ſich die ganze Geſtalt ſo reizend<lb/>
auszubilden, als es ihr beliebte, wozu ihr<lb/>
die Bewohnerinnen der unteren Gemaͤcher<lb/>
die lieblichſten Modelle lieferten. Aber<lb/>
grade der Kopf war unverſchleiert, um —<lb/>
das große Straußenei mit der Larve ſehen<lb/>
zu laſſen.</p><lb/><p>Die trauernde Geſtalt heftete ihre Blicke<lb/>
unverwandt auf eine Stelle ihres Gemaches,<lb/></p></div></body></text></TEI>
[182/0186]
dinge zu kroͤnen, ſaß oben in dem kleinſten
Gemache, unmittelbar unter der goldenen
Kuppel, einſam eine weibliche Geſtalt, die
nicht ganz jenen unverhuͤllten Grazien
glich, denn außer dem ſchoͤnen, blendenden
Halſe, und dem jugendlichen Buſen, die
nur ein duͤnner Flor zu decken ſchien, und
außer den weiſſen ſchwellenden Armen war
ſie in dichte und faltige Gewaͤnder gehuͤllt.
Waͤre nur auch der Kopf nicht ohne Schleier
geblieben: ſo haͤtte die Phantaſie Freiheit
behalten, ſich die ganze Geſtalt ſo reizend
auszubilden, als es ihr beliebte, wozu ihr
die Bewohnerinnen der unteren Gemaͤcher
die lieblichſten Modelle lieferten. Aber
grade der Kopf war unverſchleiert, um —
das große Straußenei mit der Larve ſehen
zu laſſen.
Die trauernde Geſtalt heftete ihre Blicke
unverwandt auf eine Stelle ihres Gemaches,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Fischer, Caroline Auguste]: Mährchen, In: Journal der Romane. St. 10. Berlin, 1802, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fischer_maehrchen_1802/186>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.