zeiten ausüben, begründet eine Tradition, durch die schein¬ bar eine gewisse Höhe der Kunst erhalten wird. Indessen macht es sich nur zu bald geltend, daß jene Formen nur übernommen, nicht innerlich erlebt und selbstständig ent¬ wickelt sind. Da ihre Verwendung nicht auf einer inneren Nothwendigkeit, sondern darauf beruht, daß sie als erlern¬ bar bequem zur Hand sind, so schwächt sich ihre Macht allmählig ab; der Zusammenhang, in dem sie ursprünglich standen, lockert sich, und unter der Willkür unkünstlerischer Tendenzen geht mehr und mehr ihre Reinheit verloren. Die Geschichte so vieler künstlerischer Formen ist nur so zu verstehen. Nichts anderes ist sie als eine allmählige Degeneration. Und je mehr auch jene Scheinherrschaft, welche eine große Tradition über die künstlerische Thätig¬ keit ausübt, verloren geht, desto verworrener wird das Bild, was diese bietet. Welche sonderbaren Mächte sehen wir da zur Herrschaft gelangen! Ob es die niederen Bedürfnisse nach Abwechslung, Reiz, Unterhaltung sind, denen durch die Mittel der Kunst Befriedigung geboten werden soll; ob es die idealen Bestrebungen sind, die sich das Recht zuschreiben, auch die Kunst in ihren Dienst zu zwingen: der Erfolg wird immer der gleiche sein. Was sich unseren Augen darbietet, sobald wir uns von jenen großen Zeiten weg und der Kunstübung anderer Jahrhunderte zuwenden, ist ein Bild zunehmender Verwirrung, in dem uns mehr oder minder entstellte Bruchstücke aus den Errungenschaften jener seltenen Epochen daran mahnen, daß die Kunst über¬ haupt ein eigenes Gesetz besitzt, dem sie zu gehorchen hat.
zeiten ausüben, begründet eine Tradition, durch die ſchein¬ bar eine gewiſſe Höhe der Kunſt erhalten wird. Indeſſen macht es ſich nur zu bald geltend, daß jene Formen nur übernommen, nicht innerlich erlebt und ſelbſtſtändig ent¬ wickelt ſind. Da ihre Verwendung nicht auf einer inneren Nothwendigkeit, ſondern darauf beruht, daß ſie als erlern¬ bar bequem zur Hand ſind, ſo ſchwächt ſich ihre Macht allmählig ab; der Zuſammenhang, in dem ſie urſprünglich ſtanden, lockert ſich, und unter der Willkür unkünſtleriſcher Tendenzen geht mehr und mehr ihre Reinheit verloren. Die Geſchichte ſo vieler künſtleriſcher Formen iſt nur ſo zu verſtehen. Nichts anderes iſt ſie als eine allmählige Degeneration. Und je mehr auch jene Scheinherrſchaft, welche eine große Tradition über die künſtleriſche Thätig¬ keit ausübt, verloren geht, deſto verworrener wird das Bild, was dieſe bietet. Welche ſonderbaren Mächte ſehen wir da zur Herrſchaft gelangen! Ob es die niederen Bedürfniſſe nach Abwechslung, Reiz, Unterhaltung ſind, denen durch die Mittel der Kunſt Befriedigung geboten werden ſoll; ob es die idealen Beſtrebungen ſind, die ſich das Recht zuſchreiben, auch die Kunſt in ihren Dienſt zu zwingen: der Erfolg wird immer der gleiche ſein. Was ſich unſeren Augen darbietet, ſobald wir uns von jenen großen Zeiten weg und der Kunſtübung anderer Jahrhunderte zuwenden, iſt ein Bild zunehmender Verwirrung, in dem uns mehr oder minder entſtellte Bruchſtücke aus den Errungenſchaften jener ſeltenen Epochen daran mahnen, daß die Kunſt über¬ haupt ein eigenes Geſetz beſitzt, dem ſie zu gehorchen hat.
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zeiten ausüben, begründet eine Tradition, durch die ſchein¬
bar eine gewiſſe Höhe der Kunſt erhalten wird. Indeſſen
macht es ſich nur zu bald geltend, daß jene Formen nur
übernommen, nicht innerlich erlebt und ſelbſtſtändig ent¬
wickelt ſind. Da ihre Verwendung nicht auf einer inneren
Nothwendigkeit, ſondern darauf beruht, daß ſie als erlern¬
bar bequem zur Hand ſind, ſo ſchwächt ſich ihre Macht
allmählig ab; der Zuſammenhang, in dem ſie urſprünglich
ſtanden, lockert ſich, und unter der Willkür unkünſtleriſcher
Tendenzen geht mehr und mehr ihre Reinheit verloren.
Die Geſchichte ſo vieler künſtleriſcher Formen iſt nur ſo
zu verſtehen. Nichts anderes iſt ſie als eine allmählige
Degeneration. Und je mehr auch jene Scheinherrſchaft,
welche eine große Tradition über die künſtleriſche Thätig¬
keit ausübt, verloren geht, deſto verworrener wird das Bild,
was dieſe bietet. Welche ſonderbaren Mächte ſehen wir da
zur Herrſchaft gelangen! Ob es die niederen Bedürfniſſe
nach Abwechslung, Reiz, Unterhaltung ſind, denen durch
die Mittel der Kunſt Befriedigung geboten werden ſoll;
ob es die idealen Beſtrebungen ſind, die ſich das Recht
zuſchreiben, auch die Kunſt in ihren Dienſt zu zwingen:
der Erfolg wird immer der gleiche ſein. Was ſich unſeren
Augen darbietet, ſobald wir uns von jenen großen Zeiten
weg und der Kunſtübung anderer Jahrhunderte zuwenden,
iſt ein Bild zunehmender Verwirrung, in dem uns mehr
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jener ſeltenen Epochen daran mahnen, daß die Kunſt über¬
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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/174>, abgerufen am 16.02.2025.
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