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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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diesem Allerseligenfest ausgeschlossen sein. Aber wie wäre es
möglich, daß sich die Vernunft für alle Wesen ohne Aus-
nahme interessirte, wenn die Vernunft nicht selbst unbeschränk-
ten, universalen Wesens wäre? Ist es möglich, daß sich be-
schränktes Wesen mit unbeschränktem Interesse oder beschränktes
Interesse mit unbeschränktem Wesen verträgt? Woraus erkennst
Du denn die Beschränktheit des Wesens als eben aus der
Beschränktheit des Interesses? So weit das Interesse, so
weit erstreckt sich das Wesen. Unendlich ist der Wissenstrieb,
unendlich also die Vernunft. Die Vernunft ist die oberste
Wesensgattung -- darum schließt sie alle Gattungen in das
Gebiet des Wissens ein. Die Vernunft kann daher der Ein-
zelne nicht in sich fassen. Die Vernunft hat nur in der Gat-
tung ihre adäquate Existenz
und zwar in der Gattung,
wie sie nicht nur in der Vergangenheit und Gegenwart bereits
sich explicirt hat, sondern auch in der uns unbekannten Zu-
kunft noch expliciren wird. Woraus man gewöhnlich die
Endlichkeit der Vernunft zu beweisen sucht, gerade das beweist
ihre Unendlichkeit, wie umgekehrt das, woraus man gewöhn-
lich die Unendlichkeit des Gefühls, des Gemüths oder Herzens
beweist, gerade die Beschränktheit des Gemüths enthüllt. Das
Individuum faßt in sich das ganze Herz, aber nicht die ganze
Vernunft. Mein Denken, mein Wissen ist beschränkt, weil
die Vernunft unbeschränkt ist, mein Gefühl, mein Herz unbe-
schränkt, weil das Herz an sich selbst beschränkt ist, ganz in
mich aufgeht. In der Vernunftthätigkeit fühle ich einen Un-
terschied
zwischen mir und der Vernunft; dieser Unterschied
ist die Gränze der Individualität; im Gefühl fühle ich keinen
Unterschied zwischen mir und dem Herzen; mit dem Unter-
schied fällt auch das Gefühl der Beschränktheit weg. Dieß
sind freilich wieder Unterschiede, die nur antithetische Gül-
tigkeit haben, denn das Herz des Menschen als Vernunft-
wesens
ist so unbeschränkt als die Vernunft selbst, indem
ich nur dafür mich theoretisch interessire, wofür ich Gefühl
habe.

Feuerbach. 25

dieſem Allerſeligenfeſt ausgeſchloſſen ſein. Aber wie wäre es
möglich, daß ſich die Vernunft für alle Weſen ohne Aus-
nahme intereſſirte, wenn die Vernunft nicht ſelbſt unbeſchränk-
ten, univerſalen Weſens wäre? Iſt es möglich, daß ſich be-
ſchränktes Weſen mit unbeſchränktem Intereſſe oder beſchränktes
Intereſſe mit unbeſchränktem Weſen verträgt? Woraus erkennſt
Du denn die Beſchränktheit des Weſens als eben aus der
Beſchränktheit des Intereſſes? So weit das Intereſſe, ſo
weit erſtreckt ſich das Weſen. Unendlich iſt der Wiſſenstrieb,
unendlich alſo die Vernunft. Die Vernunft iſt die oberſte
Weſensgattung — darum ſchließt ſie alle Gattungen in das
Gebiet des Wiſſens ein. Die Vernunft kann daher der Ein-
zelne nicht in ſich faſſen. Die Vernunft hat nur in der Gat-
tung ihre adäquate Exiſtenz
und zwar in der Gattung,
wie ſie nicht nur in der Vergangenheit und Gegenwart bereits
ſich explicirt hat, ſondern auch in der uns unbekannten Zu-
kunft noch expliciren wird. Woraus man gewöhnlich die
Endlichkeit der Vernunft zu beweiſen ſucht, gerade das beweiſt
ihre Unendlichkeit, wie umgekehrt das, woraus man gewöhn-
lich die Unendlichkeit des Gefühls, des Gemüths oder Herzens
beweiſt, gerade die Beſchränktheit des Gemüths enthüllt. Das
Individuum faßt in ſich das ganze Herz, aber nicht die ganze
Vernunft. Mein Denken, mein Wiſſen iſt beſchränkt, weil
die Vernunft unbeſchränkt iſt, mein Gefühl, mein Herz unbe-
ſchränkt, weil das Herz an ſich ſelbſt beſchränkt iſt, ganz in
mich aufgeht. In der Vernunftthätigkeit fühle ich einen Un-
terſchied
zwiſchen mir und der Vernunft; dieſer Unterſchied
iſt die Gränze der Individualität; im Gefühl fühle ich keinen
Unterſchied zwiſchen mir und dem Herzen; mit dem Unter-
ſchied fällt auch das Gefühl der Beſchränktheit weg. Dieß
ſind freilich wieder Unterſchiede, die nur antithetiſche Gül-
tigkeit haben, denn das Herz des Menſchen als Vernunft-
weſens
iſt ſo unbeſchränkt als die Vernunft ſelbſt, indem
ich nur dafür mich theoretiſch intereſſire, wofür ich Gefühl
habe.

Feuerbach. 25
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[385/0403] dieſem Allerſeligenfeſt ausgeſchloſſen ſein. Aber wie wäre es möglich, daß ſich die Vernunft für alle Weſen ohne Aus- nahme intereſſirte, wenn die Vernunft nicht ſelbſt unbeſchränk- ten, univerſalen Weſens wäre? Iſt es möglich, daß ſich be- ſchränktes Weſen mit unbeſchränktem Intereſſe oder beſchränktes Intereſſe mit unbeſchränktem Weſen verträgt? Woraus erkennſt Du denn die Beſchränktheit des Weſens als eben aus der Beſchränktheit des Intereſſes? So weit das Intereſſe, ſo weit erſtreckt ſich das Weſen. Unendlich iſt der Wiſſenstrieb, unendlich alſo die Vernunft. Die Vernunft iſt die oberſte Weſensgattung — darum ſchließt ſie alle Gattungen in das Gebiet des Wiſſens ein. Die Vernunft kann daher der Ein- zelne nicht in ſich faſſen. Die Vernunft hat nur in der Gat- tung ihre adäquate Exiſtenz und zwar in der Gattung, wie ſie nicht nur in der Vergangenheit und Gegenwart bereits ſich explicirt hat, ſondern auch in der uns unbekannten Zu- kunft noch expliciren wird. Woraus man gewöhnlich die Endlichkeit der Vernunft zu beweiſen ſucht, gerade das beweiſt ihre Unendlichkeit, wie umgekehrt das, woraus man gewöhn- lich die Unendlichkeit des Gefühls, des Gemüths oder Herzens beweiſt, gerade die Beſchränktheit des Gemüths enthüllt. Das Individuum faßt in ſich das ganze Herz, aber nicht die ganze Vernunft. Mein Denken, mein Wiſſen iſt beſchränkt, weil die Vernunft unbeſchränkt iſt, mein Gefühl, mein Herz unbe- ſchränkt, weil das Herz an ſich ſelbſt beſchränkt iſt, ganz in mich aufgeht. In der Vernunftthätigkeit fühle ich einen Un- terſchied zwiſchen mir und der Vernunft; dieſer Unterſchied iſt die Gränze der Individualität; im Gefühl fühle ich keinen Unterſchied zwiſchen mir und dem Herzen; mit dem Unter- ſchied fällt auch das Gefühl der Beſchränktheit weg. Dieß ſind freilich wieder Unterſchiede, die nur antithetiſche Gül- tigkeit haben, denn das Herz des Menſchen als Vernunft- weſens iſt ſo unbeſchränkt als die Vernunft ſelbſt, indem ich nur dafür mich theoretiſch intereſſire, wofür ich Gefühl habe. Feuerbach. 25

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/403>, abgerufen am 10.05.2024.