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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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kann diese Dinge nicht weglassen, ohne die Religion gewaltsam
zu verstümmeln. Die Gnade und ihre Wirkungen sind der
Gegensatz der Teufelswirkungen. Wie die unwillkührlichen,
aus der Tiefe der Natur auflodernden sinnlichen Triebe über-
haupt alle ihr unerklärlichen Erscheinungen des moralischen
und physischen Uebels der Religion als Wirkungen des bösen
Wesens erscheinen, so erscheinen ihr auch nothwendig die un-
willkührlichen Bewegungen der Begeisterung und Entzückung
als Wirkungen des guten Wesens, Gottes, des heiligen Geistes
oder der Gnade. Daher die Willkühr der Gnade -- die Klage
der Frommen, daß die Gnade sie bald beseligt, heimsucht, bald
wieder verläßt, verstößt. Das Leben, das Wesen der Gnade ist
das Leben, das Wesen des unwillkührlichen Gemüths. Das
Gemüth ist der Paraklet der Christen. Die gemüth- und be-
geisterungslosen Momente sind die von der göttlichen Gnade
verlassenen Lebensmomente.

In Beziehung auf das innere Leben kann man übrigens
auch die Gnade definiren als das religiöse Genie; in Be-
ziehung auf das äußere Leben aber als den religiösen Zu-
fall
. Der Mensch ist gut oder böse keineswegs nur durch sich
selbst, durch eigene Kraft, durch seinen Willen, sondern zugleich
durch jenen Complex geheimer und offenbarer Determinationen,
die wir, weil sie auf keiner innern Nothwendigkeit beruhen,
der Macht "Seiner Majestät des Zufalls," wie Friedrich
der Große zu sagen pflegte, zuschreiben *). Die göttliche Gnade

*) Schelling erklärt in seiner Schrift über die Freiheit dieses Räthsel
durch eine in der Ewigkeit, d. h. vor diesem Leben vollbrachte Selbstbe-
stimmung. Welche phantastische, illusorische Supposition! Aber gerade
solche puerile, bodenlose Phantastik ist das innerste Geheimniß unserer
modernen religiösen Speculanten, das Geheimniß der "christlich-germa-
nischen" Tiefe. Je schiefer, je tiefer.

kann dieſe Dinge nicht weglaſſen, ohne die Religion gewaltſam
zu verſtümmeln. Die Gnade und ihre Wirkungen ſind der
Gegenſatz der Teufelswirkungen. Wie die unwillkührlichen,
aus der Tiefe der Natur auflodernden ſinnlichen Triebe über-
haupt alle ihr unerklärlichen Erſcheinungen des moraliſchen
und phyſiſchen Uebels der Religion als Wirkungen des böſen
Weſens erſcheinen, ſo erſcheinen ihr auch nothwendig die un-
willkührlichen Bewegungen der Begeiſterung und Entzückung
als Wirkungen des guten Weſens, Gottes, des heiligen Geiſtes
oder der Gnade. Daher die Willkühr der Gnade — die Klage
der Frommen, daß die Gnade ſie bald beſeligt, heimſucht, bald
wieder verläßt, verſtößt. Das Leben, das Weſen der Gnade iſt
das Leben, das Weſen des unwillkührlichen Gemüths. Das
Gemüth iſt der Paraklet der Chriſten. Die gemüth- und be-
geiſterungsloſen Momente ſind die von der göttlichen Gnade
verlaſſenen Lebensmomente.

In Beziehung auf das innere Leben kann man übrigens
auch die Gnade definiren als das religiöſe Genie; in Be-
ziehung auf das äußere Leben aber als den religiöſen Zu-
fall
. Der Menſch iſt gut oder böſe keineswegs nur durch ſich
ſelbſt, durch eigene Kraft, durch ſeinen Willen, ſondern zugleich
durch jenen Complex geheimer und offenbarer Determinationen,
die wir, weil ſie auf keiner innern Nothwendigkeit beruhen,
der Macht „Seiner Majeſtät des Zufalls,“ wie Friedrich
der Große zu ſagen pflegte, zuſchreiben *). Die göttliche Gnade

*) Schelling erklärt in ſeiner Schrift über die Freiheit dieſes Räthſel
durch eine in der Ewigkeit, d. h. vor dieſem Leben vollbrachte Selbſtbe-
ſtimmung. Welche phantaſtiſche, illuſoriſche Suppoſition! Aber gerade
ſolche puerile, bodenloſe Phantaſtik iſt das innerſte Geheimniß unſerer
modernen religiöſen Speculanten, das Geheimniß der „chriſtlich-germa-
niſchen“ Tiefe. Je ſchiefer, je tiefer.
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[252/0270] kann dieſe Dinge nicht weglaſſen, ohne die Religion gewaltſam zu verſtümmeln. Die Gnade und ihre Wirkungen ſind der Gegenſatz der Teufelswirkungen. Wie die unwillkührlichen, aus der Tiefe der Natur auflodernden ſinnlichen Triebe über- haupt alle ihr unerklärlichen Erſcheinungen des moraliſchen und phyſiſchen Uebels der Religion als Wirkungen des böſen Weſens erſcheinen, ſo erſcheinen ihr auch nothwendig die un- willkührlichen Bewegungen der Begeiſterung und Entzückung als Wirkungen des guten Weſens, Gottes, des heiligen Geiſtes oder der Gnade. Daher die Willkühr der Gnade — die Klage der Frommen, daß die Gnade ſie bald beſeligt, heimſucht, bald wieder verläßt, verſtößt. Das Leben, das Weſen der Gnade iſt das Leben, das Weſen des unwillkührlichen Gemüths. Das Gemüth iſt der Paraklet der Chriſten. Die gemüth- und be- geiſterungsloſen Momente ſind die von der göttlichen Gnade verlaſſenen Lebensmomente. In Beziehung auf das innere Leben kann man übrigens auch die Gnade definiren als das religiöſe Genie; in Be- ziehung auf das äußere Leben aber als den religiöſen Zu- fall. Der Menſch iſt gut oder böſe keineswegs nur durch ſich ſelbſt, durch eigene Kraft, durch ſeinen Willen, ſondern zugleich durch jenen Complex geheimer und offenbarer Determinationen, die wir, weil ſie auf keiner innern Nothwendigkeit beruhen, der Macht „Seiner Majeſtät des Zufalls,“ wie Friedrich der Große zu ſagen pflegte, zuſchreiben *). Die göttliche Gnade *) Schelling erklärt in ſeiner Schrift über die Freiheit dieſes Räthſel durch eine in der Ewigkeit, d. h. vor dieſem Leben vollbrachte Selbſtbe- ſtimmung. Welche phantaſtiſche, illuſoriſche Suppoſition! Aber gerade ſolche puerile, bodenloſe Phantaſtik iſt das innerſte Geheimniß unſerer modernen religiöſen Speculanten, das Geheimniß der „chriſtlich-germa- niſchen“ Tiefe. Je ſchiefer, je tiefer.

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/270>, abgerufen am 28.11.2024.