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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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dachte und erfaßte das Individuum nur als Theil im Unter-
schiede von dem Ganzen der Gattung, das Christenthum da-
gegen nur in seiner unmittelbaren, unterschiedlosen Einheit
mit der Gattung.

Dem Christenthum war das Individuum Gegenstand
einer unmittelbaren Vorsehung, d. h. ein unmittelbarer
Gegenstand des göttlichen Wesens
. Die Heiden glaub-
ten eine Vorsehung des Einzelnen nur vermittelst der Gattung,
des Gesetzes, der Weltordnung, also nur eine mittelbare, na-
türliche, nicht wunderbare Vorsehung *); die Christen aber lie-
ßen die Vermittlung fallen, setzten sich in unmittelbaren Con-
nex mit dem vorsehenden, allumfassenden, allgemeinen Wesen;

*) Allerdings glaubten auch die heidnischen Philosophen, wie Plato,
Sokrates, die Stoiker (s. z. B. J. Lipsius Physiol. Stoic. l. I. diss.
XI.
), daß die göttliche Vorsehung sich nicht nur auf das Allgemeine,
sondern auch das Einzelne, Individuelle erstrecke; aber sie identificir-
ten die Vorsehung mit der Natur, dem Gesetz, der Nothwendig-
keit
. Allerdings glaubten auch die Stoiker, die speculativen Ortho-
doxen des Heidenthums, Wunder der Vorsehung (s. Cic. de nat. Deor.
I. II.
u. de Divinat. l. I.); aber ihre Wunder hatten doch keine solche
supranaturalistische Bedeutung, wie bei den Christen, obwohl auch sie
schon an die supranaturalistische Vorstellung: Nihil est quod Deus ef-
ficere non possit
appellirten. Was überhaupt die übereinstimmenden
Gedanken der Heiden und Christen betrifft, so verweise ich auf die
(freilich meist sehr kritiklosen) Zusammenstellungen derselben in den
Schriften älterer Theologen und Philosophen, z. B. Aug. Steuchi
Eugub. etc. de perenni philosophia I. X. Basil. 1542
(interes-
sant besonders wegen des für jene Zeit so merkwürdigen Gedankens:
Hi (die heidnischen Philosophen) loquuntur natura rationeque ma-
gistra
, quod litterae sacrae oraculo .... pene miraculum
(sit) eos ratione vidisse, quod post nuntius coelestis revelavit.)
Theoph. Galeus Philos. gener. Londini 1676,
der mit orthodoxer
Bornirtheit und Mißgunst Alles aus der Bibel ableitet, Hugo Gro-
tius
Annotationes in N. T.,
der stets zu den Aussprüchen der Bibel
die verwandten Aussprüche der Heiden gesellt.

dachte und erfaßte das Individuum nur als Theil im Unter-
ſchiede von dem Ganzen der Gattung, das Chriſtenthum da-
gegen nur in ſeiner unmittelbaren, unterſchiedloſen Einheit
mit der Gattung.

Dem Chriſtenthum war das Individuum Gegenſtand
einer unmittelbaren Vorſehung, d. h. ein unmittelbarer
Gegenſtand des göttlichen Weſens
. Die Heiden glaub-
ten eine Vorſehung des Einzelnen nur vermittelſt der Gattung,
des Geſetzes, der Weltordnung, alſo nur eine mittelbare, na-
türliche, nicht wunderbare Vorſehung *); die Chriſten aber lie-
ßen die Vermittlung fallen, ſetzten ſich in unmittelbaren Con-
nex mit dem vorſehenden, allumfaſſenden, allgemeinen Weſen;

*) Allerdings glaubten auch die heidniſchen Philoſophen, wie Plato,
Sokrates, die Stoiker (ſ. z. B. J. Lipsius Physiol. Stoic. l. I. diss.
XI.
), daß die göttliche Vorſehung ſich nicht nur auf das Allgemeine,
ſondern auch das Einzelne, Individuelle erſtrecke; aber ſie identificir-
ten die Vorſehung mit der Natur, dem Geſetz, der Nothwendig-
keit
. Allerdings glaubten auch die Stoiker, die ſpeculativen Ortho-
doxen des Heidenthums, Wunder der Vorſehung (ſ. Cic. de nat. Deor.
I. II.
u. de Divinat. l. I.); aber ihre Wunder hatten doch keine ſolche
ſupranaturaliſtiſche Bedeutung, wie bei den Chriſten, obwohl auch ſie
ſchon an die ſupranaturaliſtiſche Vorſtellung: Nihil est quod Deus ef-
ficere non possit
appellirten. Was überhaupt die übereinſtimmenden
Gedanken der Heiden und Chriſten betrifft, ſo verweiſe ich auf die
(freilich meiſt ſehr kritikloſen) Zuſammenſtellungen derſelben in den
Schriften älterer Theologen und Philoſophen, z. B. Aug. Steuchi
Eugub. etc. de perenni philosophia I. X. Basil. 1542
(intereſ-
ſant beſonders wegen des für jene Zeit ſo merkwürdigen Gedankens:
Hi (die heidniſchen Philoſophen) loquuntur natura rationeque ma-
gistra
, quod litterae sacrae oraculo .... pene miraculum
(sit) eos ratione vidisse, quod post nuntius coelestis revelavit.)
Theoph. Galeus Philos. gener. Londini 1676,
der mit orthodoxer
Bornirtheit und Mißgunſt Alles aus der Bibel ableitet, Hugo Gro-
tius
Annotationes in N. T.,
der ſtets zu den Ausſprüchen der Bibel
die verwandten Ausſprüche der Heiden geſellt.
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[200/0218] dachte und erfaßte das Individuum nur als Theil im Unter- ſchiede von dem Ganzen der Gattung, das Chriſtenthum da- gegen nur in ſeiner unmittelbaren, unterſchiedloſen Einheit mit der Gattung. Dem Chriſtenthum war das Individuum Gegenſtand einer unmittelbaren Vorſehung, d. h. ein unmittelbarer Gegenſtand des göttlichen Weſens. Die Heiden glaub- ten eine Vorſehung des Einzelnen nur vermittelſt der Gattung, des Geſetzes, der Weltordnung, alſo nur eine mittelbare, na- türliche, nicht wunderbare Vorſehung *); die Chriſten aber lie- ßen die Vermittlung fallen, ſetzten ſich in unmittelbaren Con- nex mit dem vorſehenden, allumfaſſenden, allgemeinen Weſen; *) Allerdings glaubten auch die heidniſchen Philoſophen, wie Plato, Sokrates, die Stoiker (ſ. z. B. J. Lipsius Physiol. Stoic. l. I. diss. XI.), daß die göttliche Vorſehung ſich nicht nur auf das Allgemeine, ſondern auch das Einzelne, Individuelle erſtrecke; aber ſie identificir- ten die Vorſehung mit der Natur, dem Geſetz, der Nothwendig- keit. Allerdings glaubten auch die Stoiker, die ſpeculativen Ortho- doxen des Heidenthums, Wunder der Vorſehung (ſ. Cic. de nat. Deor. I. II. u. de Divinat. l. I.); aber ihre Wunder hatten doch keine ſolche ſupranaturaliſtiſche Bedeutung, wie bei den Chriſten, obwohl auch ſie ſchon an die ſupranaturaliſtiſche Vorſtellung: Nihil est quod Deus ef- ficere non possit appellirten. Was überhaupt die übereinſtimmenden Gedanken der Heiden und Chriſten betrifft, ſo verweiſe ich auf die (freilich meiſt ſehr kritikloſen) Zuſammenſtellungen derſelben in den Schriften älterer Theologen und Philoſophen, z. B. Aug. Steuchi Eugub. etc. de perenni philosophia I. X. Basil. 1542 (intereſ- ſant beſonders wegen des für jene Zeit ſo merkwürdigen Gedankens: Hi (die heidniſchen Philoſophen) loquuntur natura rationeque ma- gistra, quod litterae sacrae oraculo .... pene miraculum (sit) eos ratione vidisse, quod post nuntius coelestis revelavit.) Theoph. Galeus Philos. gener. Londini 1676, der mit orthodoxer Bornirtheit und Mißgunſt Alles aus der Bibel ableitet, Hugo Gro- tius Annotationes in N. T., der ſtets zu den Ausſprüchen der Bibel die verwandten Ausſprüche der Heiden geſellt.

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/218>, abgerufen am 28.04.2024.