d. h. sie identificirten unmittelbar mit dem allgemeinen We- sen das einzelne Wesen.
Aber der Begriff der Gottheit fällt mit dem Begriff der Menschheit in Eins zusammen. Alle göttlichen Bestimmun- gen, alle Bestimmungen, die Gott zu Gott machen, sind Gat- tungsbestimmungen -- Bestimmungen, die in dem Ein- zelnen, dem Individuum beschränkt sind, aber deren Schranken in dem Wesen der Gattung und selbst in ihrer Existenz -- in- wiefern sie nur in allen Menschen zusammengenommen ihre entsprechende Existenz hat -- aufgehoben sind. Mein Wissen, mein Wille ist beschränkt; aber meine Schranke ist nicht die Schranke des Andern, geschweige der Menschheit; was mir schwer, ist dem Andern leicht; was einer Zeit unmöglich, un- begreiflich, ist der kommenden begreiflich und möglich. Mein Leben ist an eine beschränkte Zeit gebunden, das Leben der Menschheit nicht. Die Geschichte der Menschheit besteht in nichts anderm als einer fortgehenden Ueberwindung von Schranken, -- Schranken, die immer der vorangegang- nen Zeit für Schranken der Menschheit, und darum für absolute, unübersteigliche Schranken galten. Die Zu- kunft enthüllt aber immer, daß die angeblichen Schranken der Gattung nur Schranken der Individuen waren. Die Ge- schichte der Wissenschaften, namentlich der Philosophie und Naturwissenschaft liefern hiefür die interessantesten Belege. Es wäre höchst interessant und lehrreich, eine Geschichte der Wis- senschaften lediglich aus diesem Gesichtspunkt zu schreiben, um den Wahn des Menschen, als könnte er etwas Höheres als seine Gattung denken, seine Substanz beschränkt denken und fühlen, in seiner ganzen Nichtigkeit zu zeigen. Unbeschränkt ist also die Gattung, beschränkt nur das Individuum.
d. h. ſie identificirten unmittelbar mit dem allgemeinen We- ſen das einzelne Weſen.
Aber der Begriff der Gottheit fällt mit dem Begriff der Menſchheit in Eins zuſammen. Alle göttlichen Beſtimmun- gen, alle Beſtimmungen, die Gott zu Gott machen, ſind Gat- tungsbeſtimmungen — Beſtimmungen, die in dem Ein- zelnen, dem Individuum beſchränkt ſind, aber deren Schranken in dem Weſen der Gattung und ſelbſt in ihrer Exiſtenz — in- wiefern ſie nur in allen Menſchen zuſammengenommen ihre entſprechende Exiſtenz hat — aufgehoben ſind. Mein Wiſſen, mein Wille iſt beſchränkt; aber meine Schranke iſt nicht die Schranke des Andern, geſchweige der Menſchheit; was mir ſchwer, iſt dem Andern leicht; was einer Zeit unmöglich, un- begreiflich, iſt der kommenden begreiflich und möglich. Mein Leben iſt an eine beſchränkte Zeit gebunden, das Leben der Menſchheit nicht. Die Geſchichte der Menſchheit beſteht in nichts anderm als einer fortgehenden Ueberwindung von Schranken, — Schranken, die immer der vorangegang- nen Zeit für Schranken der Menſchheit, und darum für abſolute, unüberſteigliche Schranken galten. Die Zu- kunft enthüllt aber immer, daß die angeblichen Schranken der Gattung nur Schranken der Individuen waren. Die Ge- ſchichte der Wiſſenſchaften, namentlich der Philoſophie und Naturwiſſenſchaft liefern hiefür die intereſſanteſten Belege. Es wäre höchſt intereſſant und lehrreich, eine Geſchichte der Wiſ- ſenſchaften lediglich aus dieſem Geſichtspunkt zu ſchreiben, um den Wahn des Menſchen, als könnte er etwas Höheres als ſeine Gattung denken, ſeine Subſtanz beſchränkt denken und fühlen, in ſeiner ganzen Nichtigkeit zu zeigen. Unbeſchränkt iſt alſo die Gattung, beſchränkt nur das Individuum.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0219"n="201"/>
d. h. ſie identificirten <hirendition="#g">unmittelbar</hi> mit dem allgemeinen We-<lb/>ſen das einzelne Weſen.</p><lb/><p>Aber der Begriff der Gottheit fällt mit dem Begriff der<lb/>
Menſchheit in Eins zuſammen. Alle göttlichen Beſtimmun-<lb/>
gen, alle Beſtimmungen, die Gott zu Gott machen, ſind <hirendition="#g">Gat-<lb/>
tungsbeſtimmungen</hi>— Beſtimmungen, die in dem Ein-<lb/>
zelnen, dem Individuum beſchränkt ſind, aber deren Schranken<lb/>
in dem Weſen der Gattung und ſelbſt in ihrer Exiſtenz — in-<lb/>
wiefern ſie nur in allen Menſchen zuſammengenommen ihre<lb/>
entſprechende Exiſtenz hat — aufgehoben ſind. Mein Wiſſen,<lb/>
mein Wille iſt beſchränkt; aber meine Schranke iſt nicht die<lb/>
Schranke des Andern, geſchweige der Menſchheit; was mir<lb/>ſchwer, iſt dem Andern leicht; was einer Zeit unmöglich, un-<lb/>
begreiflich, iſt der kommenden begreiflich und möglich. Mein<lb/>
Leben iſt an eine beſchränkte Zeit gebunden, das Leben der<lb/>
Menſchheit nicht. Die <hirendition="#g">Geſchichte der Menſchheit</hi> beſteht<lb/>
in nichts anderm als einer fortgehenden <hirendition="#g">Ueberwindung von<lb/>
Schranken</hi>, — Schranken, die immer der vorangegang-<lb/>
nen Zeit für <hirendition="#g">Schranken der Menſchheit</hi>, und darum für<lb/><hirendition="#g">abſolute, unüberſteigliche Schranken</hi> galten. Die Zu-<lb/>
kunft enthüllt aber immer, daß die angeblichen Schranken der<lb/>
Gattung nur Schranken der Individuen waren. Die Ge-<lb/>ſchichte der Wiſſenſchaften, namentlich der Philoſophie und<lb/>
Naturwiſſenſchaft liefern hiefür die intereſſanteſten Belege. Es<lb/>
wäre höchſt intereſſant und lehrreich, eine Geſchichte der Wiſ-<lb/>ſenſchaften lediglich aus dieſem Geſichtspunkt zu ſchreiben, um<lb/>
den Wahn des Menſchen, als könnte er etwas Höheres als<lb/>ſeine Gattung denken, ſeine Subſtanz beſchränkt denken und<lb/>
fühlen, in ſeiner ganzen Nichtigkeit zu zeigen. Unbeſchränkt<lb/>
iſt alſo die Gattung, beſchränkt nur das Individuum.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[201/0219]
d. h. ſie identificirten unmittelbar mit dem allgemeinen We-
ſen das einzelne Weſen.
Aber der Begriff der Gottheit fällt mit dem Begriff der
Menſchheit in Eins zuſammen. Alle göttlichen Beſtimmun-
gen, alle Beſtimmungen, die Gott zu Gott machen, ſind Gat-
tungsbeſtimmungen — Beſtimmungen, die in dem Ein-
zelnen, dem Individuum beſchränkt ſind, aber deren Schranken
in dem Weſen der Gattung und ſelbſt in ihrer Exiſtenz — in-
wiefern ſie nur in allen Menſchen zuſammengenommen ihre
entſprechende Exiſtenz hat — aufgehoben ſind. Mein Wiſſen,
mein Wille iſt beſchränkt; aber meine Schranke iſt nicht die
Schranke des Andern, geſchweige der Menſchheit; was mir
ſchwer, iſt dem Andern leicht; was einer Zeit unmöglich, un-
begreiflich, iſt der kommenden begreiflich und möglich. Mein
Leben iſt an eine beſchränkte Zeit gebunden, das Leben der
Menſchheit nicht. Die Geſchichte der Menſchheit beſteht
in nichts anderm als einer fortgehenden Ueberwindung von
Schranken, — Schranken, die immer der vorangegang-
nen Zeit für Schranken der Menſchheit, und darum für
abſolute, unüberſteigliche Schranken galten. Die Zu-
kunft enthüllt aber immer, daß die angeblichen Schranken der
Gattung nur Schranken der Individuen waren. Die Ge-
ſchichte der Wiſſenſchaften, namentlich der Philoſophie und
Naturwiſſenſchaft liefern hiefür die intereſſanteſten Belege. Es
wäre höchſt intereſſant und lehrreich, eine Geſchichte der Wiſ-
ſenſchaften lediglich aus dieſem Geſichtspunkt zu ſchreiben, um
den Wahn des Menſchen, als könnte er etwas Höheres als
ſeine Gattung denken, ſeine Subſtanz beſchränkt denken und
fühlen, in ſeiner ganzen Nichtigkeit zu zeigen. Unbeſchränkt
iſt alſo die Gattung, beſchränkt nur das Individuum.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/219>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.