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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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schen Thier und Mensch aufhebt, oder gar, wie z. B. Celsus,
der Gegner des Christenthums, den Menschen unter die Thiere
degradirt.

Die Heiden betrachteten aber den Menschen nicht nur im
Zusammenhang mit dem Universum; sie betrachteten den Men-
schen, d. h. das Individunm nur im Zusammenhang mit an-
dern Menschen, in Verbindung mit einem Gemeinwesen. Sie
unterschieden strenge das Individuum von der Gattung, das
Individuum als Theil vom Ganzen des Menschengeschlechts
und subordinirten dem Ganzen das einzelne Wesen. Wie willst
Du klagen über den Verlust Deiner Tochter? schreibt Sulpi-
cius an Cicero. Große, weltberühmte Städte und Reiche sind
untergegangen und Du geberdest Dich so über den Tod eines
homunculi, eines Menschleins. Wo ist Deine Philosophie?
Der Begriff des Menschen als Individuum war den Alten
ein durch den Begriff der Gattung vermittelter, secundärer Be-
griff. Dachten sie auch hoch von der Gattung, hoch von den
Vorzügen der Menschheit, hoch und erhaben von der Intelli-
genz, so dachten sie doch gering vom Individuum. Das Chri-
stenthum dagegen ließ die Gattung fahren, hatte nur das In-
dividuum im Auge und Sinne. Das Christenthum, frei-
lich nicht das heutige Christenthum, welches nur noch den
Namen und einige allgemeine Sätze vom Christenthum behal-
ten hat, ist der directe Gegensatz des Heidenthums --
es wird nur wahrhaft erfaßt, nicht verunstaltet durch will-
kührliche, speculative Deutelei, wenn es als Gegensatz er-
faßt wird; es ist wahr, so weit als sein Gegensatz falsch
ist
, aber falsch, so weit sein Gegensatz wahr ist. Die
Alten opferten das Individuum der Gattung auf; die Chri-
sten die Gattung dem Individuum. Oder: das Heidenthum

ſchen Thier und Menſch aufhebt, oder gar, wie z. B. Celſus,
der Gegner des Chriſtenthums, den Menſchen unter die Thiere
degradirt.

Die Heiden betrachteten aber den Menſchen nicht nur im
Zuſammenhang mit dem Univerſum; ſie betrachteten den Men-
ſchen, d. h. das Individunm nur im Zuſammenhang mit an-
dern Menſchen, in Verbindung mit einem Gemeinweſen. Sie
unterſchieden ſtrenge das Individuum von der Gattung, das
Individuum als Theil vom Ganzen des Menſchengeſchlechts
und ſubordinirten dem Ganzen das einzelne Weſen. Wie willſt
Du klagen über den Verluſt Deiner Tochter? ſchreibt Sulpi-
cius an Cicero. Große, weltberühmte Städte und Reiche ſind
untergegangen und Du geberdeſt Dich ſo über den Tod eines
homunculi, eines Menſchleins. Wo iſt Deine Philoſophie?
Der Begriff des Menſchen als Individuum war den Alten
ein durch den Begriff der Gattung vermittelter, ſecundärer Be-
griff. Dachten ſie auch hoch von der Gattung, hoch von den
Vorzügen der Menſchheit, hoch und erhaben von der Intelli-
genz, ſo dachten ſie doch gering vom Individuum. Das Chri-
ſtenthum dagegen ließ die Gattung fahren, hatte nur das In-
dividuum im Auge und Sinne. Das Chriſtenthum, frei-
lich nicht das heutige Chriſtenthum, welches nur noch den
Namen und einige allgemeine Sätze vom Chriſtenthum behal-
ten hat, iſt der directe Gegenſatz des Heidenthums
es wird nur wahrhaft erfaßt, nicht verunſtaltet durch will-
kührliche, ſpeculative Deutelei, wenn es als Gegenſatz er-
faßt wird; es iſt wahr, ſo weit als ſein Gegenſatz falſch
iſt
, aber falſch, ſo weit ſein Gegenſatz wahr iſt. Die
Alten opferten das Individuum der Gattung auf; die Chri-
ſten die Gattung dem Individuum. Oder: das Heidenthum

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[199/0217] ſchen Thier und Menſch aufhebt, oder gar, wie z. B. Celſus, der Gegner des Chriſtenthums, den Menſchen unter die Thiere degradirt. Die Heiden betrachteten aber den Menſchen nicht nur im Zuſammenhang mit dem Univerſum; ſie betrachteten den Men- ſchen, d. h. das Individunm nur im Zuſammenhang mit an- dern Menſchen, in Verbindung mit einem Gemeinweſen. Sie unterſchieden ſtrenge das Individuum von der Gattung, das Individuum als Theil vom Ganzen des Menſchengeſchlechts und ſubordinirten dem Ganzen das einzelne Weſen. Wie willſt Du klagen über den Verluſt Deiner Tochter? ſchreibt Sulpi- cius an Cicero. Große, weltberühmte Städte und Reiche ſind untergegangen und Du geberdeſt Dich ſo über den Tod eines homunculi, eines Menſchleins. Wo iſt Deine Philoſophie? Der Begriff des Menſchen als Individuum war den Alten ein durch den Begriff der Gattung vermittelter, ſecundärer Be- griff. Dachten ſie auch hoch von der Gattung, hoch von den Vorzügen der Menſchheit, hoch und erhaben von der Intelli- genz, ſo dachten ſie doch gering vom Individuum. Das Chri- ſtenthum dagegen ließ die Gattung fahren, hatte nur das In- dividuum im Auge und Sinne. Das Chriſtenthum, frei- lich nicht das heutige Chriſtenthum, welches nur noch den Namen und einige allgemeine Sätze vom Chriſtenthum behal- ten hat, iſt der directe Gegenſatz des Heidenthums — es wird nur wahrhaft erfaßt, nicht verunſtaltet durch will- kührliche, ſpeculative Deutelei, wenn es als Gegenſatz er- faßt wird; es iſt wahr, ſo weit als ſein Gegenſatz falſch iſt, aber falſch, ſo weit ſein Gegenſatz wahr iſt. Die Alten opferten das Individuum der Gattung auf; die Chri- ſten die Gattung dem Individuum. Oder: das Heidenthum

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/217>, abgerufen am 28.04.2024.