Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

subjectiven Wünsche und Gefühle zu bezweifeln. Die Heiden
dagegen, nicht auf sich zurückgezogen, nicht in sich selbst vor
der Natur sich verbergend, beschränkten ihre Subjectivität durch
die Anschauung der Welt. So sehr die Alten die Herrlichkeit
der Intelligenz, der Vernunft feierten, so waren sie doch so
liberal, so objectiv, auch das Andere des Geistes, die Ma-
terie leben und zwar ewig leben zu lassen, im Theoretischen,
wie im Praktischen; die Christen bewährten ihre, wie prakti-
sche, so theoretische Intoleranz auch darin, daß sie ihr ewi-
ges subjectives Leben nur dadurch zu sichern glaubten, daß sie,
wie z. B. in dem Glauben an den Untergang der Welt, den
Gegensatz der Subjectivität, die Natur vernichteten. Die Al-
ten waren frei von sich, aber ihre Freiheit war die Freiheit der
Gleichgültigkeit gegen sich; die Christen frei von der Natur,
aber ihre Freiheit war nicht die Freiheit der Vernunft, die
wahre Freiheit -- die wahre Freiheit ist nur die durch die
Weltanschauung sich beschränkende
-- sondern die Frei-
heit des Gemüths und der Phantasie, die Freiheit des
Wunders
. Die Alten entzückte der Kosmos so sehr, daß sie
selbst sich darüber aus dem Auge verloren, sich im Ganzen ver-
schwinden sahen; die Christen verachteten die Welt; was ist
die Creatur gegen den Creator? was Sonne, Mond und Erde
gegen die menschliche Seele? Die Welt vergeht, aber der Mensch
und zwar der individuelle, persönliche Mensch ist ewig. Wenn
die Christen den Menschen aus aller Gemeinschaft mit der
Natur losrissen und dadurch in das Extrem einer vornehmen
Delicatesse verfielen, die schon die entfernte Vergleichung des
Menschen mit dem Thiere als gottlose Verletzung der Men-
schenwürde bezeichnete; so verfielen dagegen die Heiden in das
andere Extrem, in die Gemeinheit, welche den Unterschied zwi-

ſubjectiven Wünſche und Gefühle zu bezweifeln. Die Heiden
dagegen, nicht auf ſich zurückgezogen, nicht in ſich ſelbſt vor
der Natur ſich verbergend, beſchränkten ihre Subjectivität durch
die Anſchauung der Welt. So ſehr die Alten die Herrlichkeit
der Intelligenz, der Vernunft feierten, ſo waren ſie doch ſo
liberal, ſo objectiv, auch das Andere des Geiſtes, die Ma-
terie leben und zwar ewig leben zu laſſen, im Theoretiſchen,
wie im Praktiſchen; die Chriſten bewährten ihre, wie prakti-
ſche, ſo theoretiſche Intoleranz auch darin, daß ſie ihr ewi-
ges ſubjectives Leben nur dadurch zu ſichern glaubten, daß ſie,
wie z. B. in dem Glauben an den Untergang der Welt, den
Gegenſatz der Subjectivität, die Natur vernichteten. Die Al-
ten waren frei von ſich, aber ihre Freiheit war die Freiheit der
Gleichgültigkeit gegen ſich; die Chriſten frei von der Natur,
aber ihre Freiheit war nicht die Freiheit der Vernunft, die
wahre Freiheit — die wahre Freiheit iſt nur die durch die
Weltanſchauung ſich beſchränkende
— ſondern die Frei-
heit des Gemüths und der Phantaſie, die Freiheit des
Wunders
. Die Alten entzückte der Kosmos ſo ſehr, daß ſie
ſelbſt ſich darüber aus dem Auge verloren, ſich im Ganzen ver-
ſchwinden ſahen; die Chriſten verachteten die Welt; was iſt
die Creatur gegen den Creator? was Sonne, Mond und Erde
gegen die menſchliche Seele? Die Welt vergeht, aber der Menſch
und zwar der individuelle, perſönliche Menſch iſt ewig. Wenn
die Chriſten den Menſchen aus aller Gemeinſchaft mit der
Natur losriſſen und dadurch in das Extrem einer vornehmen
Delicateſſe verfielen, die ſchon die entfernte Vergleichung des
Menſchen mit dem Thiere als gottloſe Verletzung der Men-
ſchenwürde bezeichnete; ſo verfielen dagegen die Heiden in das
andere Extrem, in die Gemeinheit, welche den Unterſchied zwi-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0216" n="198"/>
&#x017F;ubjectiven Wün&#x017F;che und Gefühle zu bezweifeln. Die Heiden<lb/>
dagegen, nicht auf &#x017F;ich zurückgezogen, nicht in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t vor<lb/>
der Natur &#x017F;ich verbergend, be&#x017F;chränkten ihre Subjectivität durch<lb/>
die An&#x017F;chauung der Welt. So &#x017F;ehr die Alten die Herrlichkeit<lb/>
der Intelligenz, der Vernunft feierten, &#x017F;o waren &#x017F;ie doch &#x017F;o<lb/><hi rendition="#g">liberal</hi>, &#x017F;o <hi rendition="#g">objectiv</hi>, auch das Andere des Gei&#x017F;tes, die Ma-<lb/>
terie leben und zwar ewig leben zu la&#x017F;&#x017F;en, im Theoreti&#x017F;chen,<lb/>
wie im Prakti&#x017F;chen; die Chri&#x017F;ten bewährten ihre, wie prakti-<lb/>
&#x017F;che, &#x017F;o theoreti&#x017F;che <hi rendition="#g">Intoleranz</hi> auch darin, daß &#x017F;ie ihr ewi-<lb/>
ges &#x017F;ubjectives Leben nur dadurch zu &#x017F;ichern glaubten, daß &#x017F;ie,<lb/>
wie z. B. in dem Glauben an den Untergang der Welt, den<lb/>
Gegen&#x017F;atz der Subjectivität, die Natur vernichteten. Die Al-<lb/>
ten waren frei von &#x017F;ich, aber ihre Freiheit war die Freiheit der<lb/>
Gleichgültigkeit gegen &#x017F;ich; die Chri&#x017F;ten frei von der Natur,<lb/>
aber ihre Freiheit war nicht die Freiheit der Vernunft, die<lb/>
wahre Freiheit &#x2014; die wahre Freiheit i&#x017F;t nur die <hi rendition="#g">durch die<lb/>
Weltan&#x017F;chauung &#x017F;ich be&#x017F;chränkende</hi> &#x2014; &#x017F;ondern die Frei-<lb/>
heit des Gemüths und der Phanta&#x017F;ie, <hi rendition="#g">die Freiheit des<lb/>
Wunders</hi>. Die Alten entzückte der Kosmos &#x017F;o &#x017F;ehr, daß &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich darüber aus dem Auge verloren, &#x017F;ich im Ganzen ver-<lb/>
&#x017F;chwinden &#x017F;ahen; die Chri&#x017F;ten verachteten die Welt; was i&#x017F;t<lb/>
die Creatur gegen den Creator? was Sonne, Mond und Erde<lb/>
gegen die men&#x017F;chliche Seele? Die Welt vergeht, aber der Men&#x017F;ch<lb/>
und zwar der individuelle, per&#x017F;önliche Men&#x017F;ch i&#x017F;t ewig. Wenn<lb/>
die Chri&#x017F;ten den Men&#x017F;chen aus aller Gemein&#x017F;chaft mit der<lb/>
Natur losri&#x017F;&#x017F;en und dadurch in das Extrem einer vornehmen<lb/>
Delicate&#x017F;&#x017F;e verfielen, die &#x017F;chon die entfernte Vergleichung des<lb/>
Men&#x017F;chen mit dem Thiere als gottlo&#x017F;e Verletzung der Men-<lb/>
&#x017F;chenwürde bezeichnete; &#x017F;o verfielen dagegen die Heiden in das<lb/>
andere Extrem, in die Gemeinheit, welche den Unter&#x017F;chied zwi-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[198/0216] ſubjectiven Wünſche und Gefühle zu bezweifeln. Die Heiden dagegen, nicht auf ſich zurückgezogen, nicht in ſich ſelbſt vor der Natur ſich verbergend, beſchränkten ihre Subjectivität durch die Anſchauung der Welt. So ſehr die Alten die Herrlichkeit der Intelligenz, der Vernunft feierten, ſo waren ſie doch ſo liberal, ſo objectiv, auch das Andere des Geiſtes, die Ma- terie leben und zwar ewig leben zu laſſen, im Theoretiſchen, wie im Praktiſchen; die Chriſten bewährten ihre, wie prakti- ſche, ſo theoretiſche Intoleranz auch darin, daß ſie ihr ewi- ges ſubjectives Leben nur dadurch zu ſichern glaubten, daß ſie, wie z. B. in dem Glauben an den Untergang der Welt, den Gegenſatz der Subjectivität, die Natur vernichteten. Die Al- ten waren frei von ſich, aber ihre Freiheit war die Freiheit der Gleichgültigkeit gegen ſich; die Chriſten frei von der Natur, aber ihre Freiheit war nicht die Freiheit der Vernunft, die wahre Freiheit — die wahre Freiheit iſt nur die durch die Weltanſchauung ſich beſchränkende — ſondern die Frei- heit des Gemüths und der Phantaſie, die Freiheit des Wunders. Die Alten entzückte der Kosmos ſo ſehr, daß ſie ſelbſt ſich darüber aus dem Auge verloren, ſich im Ganzen ver- ſchwinden ſahen; die Chriſten verachteten die Welt; was iſt die Creatur gegen den Creator? was Sonne, Mond und Erde gegen die menſchliche Seele? Die Welt vergeht, aber der Menſch und zwar der individuelle, perſönliche Menſch iſt ewig. Wenn die Chriſten den Menſchen aus aller Gemeinſchaft mit der Natur losriſſen und dadurch in das Extrem einer vornehmen Delicateſſe verfielen, die ſchon die entfernte Vergleichung des Menſchen mit dem Thiere als gottloſe Verletzung der Men- ſchenwürde bezeichnete; ſo verfielen dagegen die Heiden in das andere Extrem, in die Gemeinheit, welche den Unterſchied zwi-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/216
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/216>, abgerufen am 03.12.2024.