Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

ßerung geht dem Gemüthe ab. Die Apostel und Evangeli-
sten waren keine wissenschaftlich gebildete Männer. Bildung
überhaupt ist nichts andres als die Erhebung des Indivi-
duums über seine Subjectivität zur objectiven universalen
Anschauung, zur Anschauung der Welt
. Die Apostel
waren Volksmänner; das Volk lebt nur in sich, im Gemü-
the; darum siegte das Christenthum über die Völker. Vox
populi vox Dei.
Hätte das Christenthum über einen Philo-
sophen, einen Geschichtschreiber, einen Dichter der classischen
Zeit gesiegt? Die Philosophen, die zum Christenthum übergin-
gen, waren schwache, schlechte Philosophen. Alle diejenigen,
die noch classischen Geist in sich hatten, waren feindselig oder
doch gleichgültig gegen das Christenthum. Der Untergang
der Bildung war identisch mit dem Sieg des Christenthums.
Der classische Geist, der Geist der Bildung ist der sich selbst
durch Gesetze -- freilich nicht willkührliche, endliche, sondern
wahrhafte, an und für sich gültige Gesetze beschränkende, durch
die Nothwendigkeit, die Wahrheit der Natur der Dinge
Gefühl und Phantasie bestimmende, kurz der objective Geist.
An die Stelle dieses Geistes trat mit dem Christenthum das
Princip der unbeschränkten, maaßlosen, überschwänglichen, su-
pranaturalistischen Subjectivität -- ein in seinem innersten
Wesen dem Princip der Wissenschaft, der Bildung entgegen-
gesetztes Princip*). Mit dem Christenthum verlor der Mensch

*) Bildung in dem Sinne, in dem sie hier genommen wird. Welt-
bildung wäre der richtige Ausdruck, wenn dieser nicht im Sprachgebrauch
eine zu gemeine und oberflächliche Bedeutung erhalten hätte. -- Höchst
charakteristisch für das Christenthum -- ein populärer Beweis des Gesag-
ten -- ist es, daß nur die Sprache der Bibel, nicht die eines Sophokles
oder Plato, also nur die unbestimmte gesetzlose Sprache des Ge-
müths, nicht die Sprache der Kunst und Philosophie für die Sprache,

ßerung geht dem Gemüthe ab. Die Apoſtel und Evangeli-
ſten waren keine wiſſenſchaftlich gebildete Männer. Bildung
überhaupt iſt nichts andres als die Erhebung des Indivi-
duums über ſeine Subjectivität zur objectiven univerſalen
Anſchauung, zur Anſchauung der Welt
. Die Apoſtel
waren Volksmänner; das Volk lebt nur in ſich, im Gemü-
the; darum ſiegte das Chriſtenthum über die Völker. Vox
populi vox Dei.
Hätte das Chriſtenthum über einen Philo-
ſophen, einen Geſchichtſchreiber, einen Dichter der claſſiſchen
Zeit geſiegt? Die Philoſophen, die zum Chriſtenthum übergin-
gen, waren ſchwache, ſchlechte Philoſophen. Alle diejenigen,
die noch claſſiſchen Geiſt in ſich hatten, waren feindſelig oder
doch gleichgültig gegen das Chriſtenthum. Der Untergang
der Bildung war identiſch mit dem Sieg des Chriſtenthums.
Der claſſiſche Geiſt, der Geiſt der Bildung iſt der ſich ſelbſt
durch Geſetze — freilich nicht willkührliche, endliche, ſondern
wahrhafte, an und für ſich gültige Geſetze beſchränkende, durch
die Nothwendigkeit, die Wahrheit der Natur der Dinge
Gefühl und Phantaſie beſtimmende, kurz der objective Geiſt.
An die Stelle dieſes Geiſtes trat mit dem Chriſtenthum das
Princip der unbeſchränkten, maaßloſen, überſchwänglichen, ſu-
pranaturaliſtiſchen Subjectivität — ein in ſeinem innerſten
Weſen dem Princip der Wiſſenſchaft, der Bildung entgegen-
geſetztes Princip*). Mit dem Chriſtenthum verlor der Menſch

*) Bildung in dem Sinne, in dem ſie hier genommen wird. Welt-
bildung wäre der richtige Ausdruck, wenn dieſer nicht im Sprachgebrauch
eine zu gemeine und oberflaͤchliche Bedeutung erhalten hätte. — Höchſt
charakteriſtiſch für das Chriſtenthum — ein populärer Beweis des Geſag-
ten — iſt es, daß nur die Sprache der Bibel, nicht die eines Sophokles
oder Plato, alſo nur die unbeſtimmte geſetzloſe Sprache des Ge-
müths, nicht die Sprache der Kunſt und Philoſophie für die Sprache,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0190" n="172"/>
ßerung geht dem Gemüthe ab. Die Apo&#x017F;tel und Evangeli-<lb/>
&#x017F;ten waren keine wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich gebildete Männer. Bildung<lb/>
überhaupt i&#x017F;t nichts andres als die Erhebung des Indivi-<lb/>
duums über &#x017F;eine Subjectivität zur <hi rendition="#g">objectiven univer&#x017F;alen<lb/>
An&#x017F;chauung, zur An&#x017F;chauung der Welt</hi>. Die Apo&#x017F;tel<lb/>
waren Volksmänner; das Volk lebt nur in &#x017F;ich, im Gemü-<lb/>
the; darum &#x017F;iegte das Chri&#x017F;tenthum über die Völker. <hi rendition="#aq">Vox<lb/>
populi vox Dei.</hi> Hätte das Chri&#x017F;tenthum über einen Philo-<lb/>
&#x017F;ophen, einen Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreiber, einen Dichter der cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Zeit ge&#x017F;iegt? Die Philo&#x017F;ophen, die zum Chri&#x017F;tenthum übergin-<lb/>
gen, waren &#x017F;chwache, &#x017F;chlechte Philo&#x017F;ophen. Alle diejenigen,<lb/>
die noch cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Gei&#x017F;t in &#x017F;ich hatten, waren feind&#x017F;elig oder<lb/>
doch gleichgültig gegen das Chri&#x017F;tenthum. Der Untergang<lb/>
der Bildung war identi&#x017F;ch mit dem Sieg des Chri&#x017F;tenthums.<lb/>
Der cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Gei&#x017F;t, der Gei&#x017F;t der Bildung i&#x017F;t der &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
durch Ge&#x017F;etze &#x2014; freilich nicht willkührliche, endliche, &#x017F;ondern<lb/>
wahrhafte, an und für &#x017F;ich gültige Ge&#x017F;etze be&#x017F;chränkende, durch<lb/>
die <hi rendition="#g">Nothwendigkeit</hi>, die <hi rendition="#g">Wahrheit der Natur der Dinge</hi><lb/>
Gefühl und Phanta&#x017F;ie be&#x017F;timmende, kurz der <hi rendition="#g">objective</hi> Gei&#x017F;t.<lb/>
An die Stelle die&#x017F;es Gei&#x017F;tes trat mit dem Chri&#x017F;tenthum das<lb/>
Princip der unbe&#x017F;chränkten, maaßlo&#x017F;en, über&#x017F;chwänglichen, &#x017F;u-<lb/>
pranaturali&#x017F;ti&#x017F;chen Subjectivität &#x2014; ein in &#x017F;einem inner&#x017F;ten<lb/>
We&#x017F;en dem Princip der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, der Bildung entgegen-<lb/>
ge&#x017F;etztes Princip<note xml:id="note-0190" next="#note-0191" place="foot" n="*)">Bildung in dem Sinne, in dem &#x017F;ie hier genommen wird. Welt-<lb/>
bildung wäre der richtige Ausdruck, wenn die&#x017F;er nicht im Sprachgebrauch<lb/>
eine zu gemeine und oberfla&#x0364;chliche Bedeutung erhalten hätte. &#x2014; Höch&#x017F;t<lb/>
charakteri&#x017F;ti&#x017F;ch für das Chri&#x017F;tenthum &#x2014; ein populärer Beweis des Ge&#x017F;ag-<lb/>
ten &#x2014; i&#x017F;t es, daß nur die Sprache der Bibel, nicht die eines Sophokles<lb/>
oder Plato, al&#x017F;o nur die <hi rendition="#g">unbe&#x017F;timmte ge&#x017F;etzlo&#x017F;e</hi> Sprache des Ge-<lb/>
müths, nicht die Sprache der <hi rendition="#g">Kun&#x017F;t</hi> und <hi rendition="#g">Philo&#x017F;ophie</hi> für die Sprache,</note>. Mit dem Chri&#x017F;tenthum verlor der Men&#x017F;ch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[172/0190] ßerung geht dem Gemüthe ab. Die Apoſtel und Evangeli- ſten waren keine wiſſenſchaftlich gebildete Männer. Bildung überhaupt iſt nichts andres als die Erhebung des Indivi- duums über ſeine Subjectivität zur objectiven univerſalen Anſchauung, zur Anſchauung der Welt. Die Apoſtel waren Volksmänner; das Volk lebt nur in ſich, im Gemü- the; darum ſiegte das Chriſtenthum über die Völker. Vox populi vox Dei. Hätte das Chriſtenthum über einen Philo- ſophen, einen Geſchichtſchreiber, einen Dichter der claſſiſchen Zeit geſiegt? Die Philoſophen, die zum Chriſtenthum übergin- gen, waren ſchwache, ſchlechte Philoſophen. Alle diejenigen, die noch claſſiſchen Geiſt in ſich hatten, waren feindſelig oder doch gleichgültig gegen das Chriſtenthum. Der Untergang der Bildung war identiſch mit dem Sieg des Chriſtenthums. Der claſſiſche Geiſt, der Geiſt der Bildung iſt der ſich ſelbſt durch Geſetze — freilich nicht willkührliche, endliche, ſondern wahrhafte, an und für ſich gültige Geſetze beſchränkende, durch die Nothwendigkeit, die Wahrheit der Natur der Dinge Gefühl und Phantaſie beſtimmende, kurz der objective Geiſt. An die Stelle dieſes Geiſtes trat mit dem Chriſtenthum das Princip der unbeſchränkten, maaßloſen, überſchwänglichen, ſu- pranaturaliſtiſchen Subjectivität — ein in ſeinem innerſten Weſen dem Princip der Wiſſenſchaft, der Bildung entgegen- geſetztes Princip *). Mit dem Chriſtenthum verlor der Menſch *) Bildung in dem Sinne, in dem ſie hier genommen wird. Welt- bildung wäre der richtige Ausdruck, wenn dieſer nicht im Sprachgebrauch eine zu gemeine und oberflaͤchliche Bedeutung erhalten hätte. — Höchſt charakteriſtiſch für das Chriſtenthum — ein populärer Beweis des Geſag- ten — iſt es, daß nur die Sprache der Bibel, nicht die eines Sophokles oder Plato, alſo nur die unbeſtimmte geſetzloſe Sprache des Ge- müths, nicht die Sprache der Kunſt und Philoſophie für die Sprache,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/190
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/190>, abgerufen am 01.05.2024.