Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.den Sinn, die Fähigkeit, sich in die Natur, das Universum Für den bloßen Gemüthsmenschen ist unmittelbar, ohne die Offenbarung des göttlichen Geistes im Christenthum galt und heute
noch gilt. -- Aber waren denn nicht viele Kirchenväter, wie z. B. Ter- tullian, Clemens A., Hieronymus, Origenes sehr gelehrte Leute? Ver- danken wir nicht ihnen sogar viele Kenntnisse des heidnischen Alterthums? Wer wird dieß läugnen? Aber ist der ein Freund und Beförderer des Pie- tismus, der die Tractätlein der Pietisten sammelt und citirt, um sie zu prostituiren? Nur auf den wissenschaftlichen Sinn allein kommt es an. Aber diesen sollten sie auch ihrer Zeit und Bestimmung nach nicht haben. Richtig; aber sie konnten auch ihrem Grundprincip nach keinen ha- ben. -- Wenn die Concilien von den Geistlichen Kenntnisse verlangen, so verstehen sie darunter natürlich immer nur kirchliche oder theologische Kenntnisse. den Sinn, die Fähigkeit, ſich in die Natur, das Univerſum Für den bloßen Gemüthsmenſchen iſt unmittelbar, ohne die Offenbarung des göttlichen Geiſtes im Chriſtenthum galt und heute
noch gilt. — Aber waren denn nicht viele Kirchenväter, wie z. B. Ter- tullian, Clemens A., Hieronymus, Origenes ſehr gelehrte Leute? Ver- danken wir nicht ihnen ſogar viele Kenntniſſe des heidniſchen Alterthums? Wer wird dieß läugnen? Aber iſt der ein Freund und Beförderer des Pie- tismus, der die Tractätlein der Pietiſten ſammelt und citirt, um ſie zu proſtituiren? Nur auf den wiſſenſchaftlichen Sinn allein kommt es an. Aber dieſen ſollten ſie auch ihrer Zeit und Beſtimmung nach nicht haben. Richtig; aber ſie konnten auch ihrem Grundprincip nach keinen ha- ben. — Wenn die Concilien von den Geiſtlichen Kenntniſſe verlangen, ſo verſtehen ſie darunter natürlich immer nur kirchliche oder theologiſche Kenntniſſe. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0191" n="173"/> den Sinn, die Fähigkeit, ſich in die Natur, das Univerſum<lb/> hineinzudenken. So lange das <hi rendition="#g">wahre, ungeheuchelte, un-<lb/> verfälſchte, rückſichtsloſe</hi> Chriſtenthum exiſtirte, ſo lange<lb/> das Chriſtenthum eine <hi rendition="#g">lebendige, praktiſche Wahrheit</hi><lb/> war, ſo lange geſchahen <hi rendition="#g">wirkliche</hi> Wunder, und ſie geſcha-<lb/> hen nothwendig, denn der Glaube an todte, hiſtoriſche, ver-<lb/> gangne Wunder iſt ſelbſt ein todter Glaube, der <hi rendition="#g">erſte Anſatz<lb/> zum Unglauben</hi> oder vielmehr die erſte und eben deßwegen<lb/> ſchüchterne, unwahre, unfreie Weiſe, wie der Unglaube an<lb/> das Wunder ſich Luft macht. Aber wo Wunder geſchehen,<lb/> da verfließen alle beſtimmten Geſtalten in den Nebel der Phan-<lb/> taſie und des Gemüths; da iſt die Welt, die Wirklichkeit<lb/> Nichts, da iſt das <hi rendition="#g">objective</hi>, wirkliche Weſen allein das<lb/> wunderthätige, gemüthliche, d. i. <hi rendition="#g">ſubjective</hi> Weſen.</p><lb/> <p>Für den bloßen Gemüthsmenſchen iſt unmittelbar, ohne<lb/> daß er es will und weiß, die Einbildungskraft die höchſte Thä-<lb/> tigkeit, die ihn beherrſchende; als die höchſte, die Thätigkeit<lb/> Gottes, die ſchöpferiſche Thätigkeit. Sein Gemüth iſt ihm<lb/> eine unmittelbare Wahrheit und Realität; ſo real ihm das<lb/> Gemüth iſt — und es iſt ihm das Realſte, Weſenhafteſte; er<lb/><note xml:id="note-0191" prev="#note-0190" place="foot" n="*)">die Offenbarung des göttlichen Geiſtes im Chriſtenthum galt und heute<lb/> noch gilt. — Aber waren denn nicht viele Kirchenväter, wie z. B. Ter-<lb/> tullian, Clemens A., Hieronymus, Origenes ſehr gelehrte Leute? Ver-<lb/> danken wir nicht ihnen ſogar viele Kenntniſſe des heidniſchen Alterthums?<lb/> Wer wird dieß läugnen? Aber iſt der ein Freund und Beförderer des Pie-<lb/> tismus, der die Tractätlein der Pietiſten ſammelt und citirt, um ſie zu<lb/> proſtituiren? Nur auf den wiſſenſchaftlichen Sinn allein kommt es an.<lb/> Aber dieſen ſollten ſie auch ihrer Zeit und Beſtimmung nach nicht haben.<lb/> Richtig; aber ſie konnten auch ihrem <hi rendition="#g">Grundprincip</hi> nach keinen ha-<lb/> ben. — Wenn die Concilien von den Geiſtlichen Kenntniſſe verlangen,<lb/> ſo verſtehen ſie darunter natürlich immer nur kirchliche oder theologiſche<lb/> Kenntniſſe.</note><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [173/0191]
den Sinn, die Fähigkeit, ſich in die Natur, das Univerſum
hineinzudenken. So lange das wahre, ungeheuchelte, un-
verfälſchte, rückſichtsloſe Chriſtenthum exiſtirte, ſo lange
das Chriſtenthum eine lebendige, praktiſche Wahrheit
war, ſo lange geſchahen wirkliche Wunder, und ſie geſcha-
hen nothwendig, denn der Glaube an todte, hiſtoriſche, ver-
gangne Wunder iſt ſelbſt ein todter Glaube, der erſte Anſatz
zum Unglauben oder vielmehr die erſte und eben deßwegen
ſchüchterne, unwahre, unfreie Weiſe, wie der Unglaube an
das Wunder ſich Luft macht. Aber wo Wunder geſchehen,
da verfließen alle beſtimmten Geſtalten in den Nebel der Phan-
taſie und des Gemüths; da iſt die Welt, die Wirklichkeit
Nichts, da iſt das objective, wirkliche Weſen allein das
wunderthätige, gemüthliche, d. i. ſubjective Weſen.
Für den bloßen Gemüthsmenſchen iſt unmittelbar, ohne
daß er es will und weiß, die Einbildungskraft die höchſte Thä-
tigkeit, die ihn beherrſchende; als die höchſte, die Thätigkeit
Gottes, die ſchöpferiſche Thätigkeit. Sein Gemüth iſt ihm
eine unmittelbare Wahrheit und Realität; ſo real ihm das
Gemüth iſt — und es iſt ihm das Realſte, Weſenhafteſte; er
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*) die Offenbarung des göttlichen Geiſtes im Chriſtenthum galt und heute
noch gilt. — Aber waren denn nicht viele Kirchenväter, wie z. B. Ter-
tullian, Clemens A., Hieronymus, Origenes ſehr gelehrte Leute? Ver-
danken wir nicht ihnen ſogar viele Kenntniſſe des heidniſchen Alterthums?
Wer wird dieß läugnen? Aber iſt der ein Freund und Beförderer des Pie-
tismus, der die Tractätlein der Pietiſten ſammelt und citirt, um ſie zu
proſtituiren? Nur auf den wiſſenſchaftlichen Sinn allein kommt es an.
Aber dieſen ſollten ſie auch ihrer Zeit und Beſtimmung nach nicht haben.
Richtig; aber ſie konnten auch ihrem Grundprincip nach keinen ha-
ben. — Wenn die Concilien von den Geiſtlichen Kenntniſſe verlangen,
ſo verſtehen ſie darunter natürlich immer nur kirchliche oder theologiſche
Kenntniſſe.
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Zitationshilfe: | Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/191>, abgerufen am 23.06.2024. |