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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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4. Die Staatsperrücke u. d. absolute Herrschaft d. franz. Mode.
Bändern oder durch Geschmeide faltig zusammengefaßt, sich um
Schultern und Brust am Saum herumzieht. Als nun die Robe,
von der Spitze des Leibchens aus einander gehend, den obern
Saum des Kleides überschnitt und einen Theil der Schultern
verdeckte, mußte sich auch diese Kragenform ändern und damit
überhaupt der Kragen verschwinden. Nun erhielt das Hemd
einen Spitzenbesatz, der wie am Arm, so an Brust und Schultern
aus Kleid und Robe in freien Falten hervorquoll, nichts ver-
deckte, aber doch über die Tiefen seine leichten Schatten warf.
So blieb es bis in den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts.

Man kann nicht sagen, daß die Decolletirung in dieser
Periode zugenommen habe, eher war das Gegentheil der Fall,
und nur das läßt sich zugestehen, daß sie sich mit der französischen
Tracht weiter in den bürgerlichen Kreisen ausbreitete. Dieser
Umstand mochte auch wohl die lebhaften Angriffe hervorrufen,
welche von Seiten der Aerzte und der Sittenrichter in Ernst und
Scherz gegen sie gerichtet wurden. Da heißt es:

"Frauenvolk ist offenherzig: sowie sie sich kleiden itzt,
Geben sie vom Berg ein Zeichen, daß es in dem Thale hitzt."
Oder:
"Jungfern, die die Venushügel blößen unverholen,
Blasen zu dem Liebesfeuer jedem auf die Kohlen."
Am ernsthaftesten meint es der Verfasser einer Schrift, welche im
Jahr 1686 erschien und den Titel führt: "Die zu jetziger Zeit
lüderlich und leichtsinnig entblößeten Brüste des Frauenzimmers
und die darauf gehörige und hochnöthige Decke." Die versificirte
Vorrede beginnt also:

"Komm, Lüsteler, anher, der du nach Brüsten siehest,
die schändlich seyn entblößt und weit herausgelegt,
Lies diese Blätter durch, eh du dich so bemühest;
ich weiß, die schnöde Lust sich nicht so sehr mehr regt.
Kommt näher doch anher, ihr Frauen und Jungfrauen,
die ihr mit Brüste-Schmuck vielfältig gehet um;

4. Die Staatsperrücke u. d. abſolute Herrſchaft d. franz. Mode.
Bändern oder durch Geſchmeide faltig zuſammengefaßt, ſich um
Schultern und Bruſt am Saum herumzieht. Als nun die Robe,
von der Spitze des Leibchens aus einander gehend, den obern
Saum des Kleides überſchnitt und einen Theil der Schultern
verdeckte, mußte ſich auch dieſe Kragenform ändern und damit
überhaupt der Kragen verſchwinden. Nun erhielt das Hemd
einen Spitzenbeſatz, der wie am Arm, ſo an Bruſt und Schultern
aus Kleid und Robe in freien Falten hervorquoll, nichts ver-
deckte, aber doch über die Tiefen ſeine leichten Schatten warf.
So blieb es bis in den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts.

Man kann nicht ſagen, daß die Decolletirung in dieſer
Periode zugenommen habe, eher war das Gegentheil der Fall,
und nur das läßt ſich zugeſtehen, daß ſie ſich mit der franzöſiſchen
Tracht weiter in den bürgerlichen Kreiſen ausbreitete. Dieſer
Umſtand mochte auch wohl die lebhaften Angriffe hervorrufen,
welche von Seiten der Aerzte und der Sittenrichter in Ernſt und
Scherz gegen ſie gerichtet wurden. Da heißt es:

„Frauenvolk iſt offenherzig: ſowie ſie ſich kleiden itzt,
Geben ſie vom Berg ein Zeichen, daß es in dem Thale hitzt.“
Oder:
„Jungfern, die die Venushügel blößen unverholen,
Blaſen zu dem Liebesfeuer jedem auf die Kohlen.“
Am ernſthafteſten meint es der Verfaſſer einer Schrift, welche im
Jahr 1686 erſchien und den Titel führt: „Die zu jetziger Zeit
lüderlich und leichtſinnig entblößeten Brüſte des Frauenzimmers
und die darauf gehörige und hochnöthige Decke.“ Die verſificirte
Vorrede beginnt alſo:

„Komm, Lüſteler, anher, der du nach Brüſten ſieheſt,
die ſchändlich ſeyn entblößt und weit herausgelegt,
Lies dieſe Blätter durch, eh du dich ſo bemüheſt;
ich weiß, die ſchnöde Luſt ſich nicht ſo ſehr mehr regt.
Kommt näher doch anher, ihr Frauen und Jungfrauen,
die ihr mit Brüſte-Schmuck vielfältig gehet um;
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[253/0265] 4. Die Staatsperrücke u. d. abſolute Herrſchaft d. franz. Mode. Bändern oder durch Geſchmeide faltig zuſammengefaßt, ſich um Schultern und Bruſt am Saum herumzieht. Als nun die Robe, von der Spitze des Leibchens aus einander gehend, den obern Saum des Kleides überſchnitt und einen Theil der Schultern verdeckte, mußte ſich auch dieſe Kragenform ändern und damit überhaupt der Kragen verſchwinden. Nun erhielt das Hemd einen Spitzenbeſatz, der wie am Arm, ſo an Bruſt und Schultern aus Kleid und Robe in freien Falten hervorquoll, nichts ver- deckte, aber doch über die Tiefen ſeine leichten Schatten warf. So blieb es bis in den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts. Man kann nicht ſagen, daß die Decolletirung in dieſer Periode zugenommen habe, eher war das Gegentheil der Fall, und nur das läßt ſich zugeſtehen, daß ſie ſich mit der franzöſiſchen Tracht weiter in den bürgerlichen Kreiſen ausbreitete. Dieſer Umſtand mochte auch wohl die lebhaften Angriffe hervorrufen, welche von Seiten der Aerzte und der Sittenrichter in Ernſt und Scherz gegen ſie gerichtet wurden. Da heißt es: „Frauenvolk iſt offenherzig: ſowie ſie ſich kleiden itzt, Geben ſie vom Berg ein Zeichen, daß es in dem Thale hitzt.“ Oder: „Jungfern, die die Venushügel blößen unverholen, Blaſen zu dem Liebesfeuer jedem auf die Kohlen.“ Am ernſthafteſten meint es der Verfaſſer einer Schrift, welche im Jahr 1686 erſchien und den Titel führt: „Die zu jetziger Zeit lüderlich und leichtſinnig entblößeten Brüſte des Frauenzimmers und die darauf gehörige und hochnöthige Decke.“ Die verſificirte Vorrede beginnt alſo: „Komm, Lüſteler, anher, der du nach Brüſten ſieheſt, die ſchändlich ſeyn entblößt und weit herausgelegt, Lies dieſe Blätter durch, eh du dich ſo bemüheſt; ich weiß, die ſchnöde Luſt ſich nicht ſo ſehr mehr regt. Kommt näher doch anher, ihr Frauen und Jungfrauen, die ihr mit Brüſte-Schmuck vielfältig gehet um;

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/265>, abgerufen am 25.11.2024.