Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.an einer glücklichen Vorstellung haben, neben dem Ganzen treten zugleich die einzelnen Bestandtheile deutlicher vor Augen, und indem die Gegenstände der Vergleichung in dem kürzesten Zeitraum zusammengedrängt folgen, bildet sich unmerklich der größte Scharfsinn der Beurtheilung, die genaueste Uebersicht des Ganzen und die leiseste Würdigung des Einzelnen, mit einem Worte, es entstehen Vertraute und Liebhaber der Bühne, wie deren die französische in Paris zu ihrem größten Vortheil so viele zählt, und wie Goethe deren einige als Serlo's größten Beistand in Wilhelm Meister schildert. So ging es auch mir, ich lernte das Vergnügen begreifen, mit welchem die täglichen Schauspielfreunde auch den abgeschmacktesten und wiederholtesten Vorstellungen zusehen, und erstaunte über die zahllosen Bemerkungen und Aufschlüsse, die jeder neue Abend mir gab. Ich nahm unwillkürlich Theil an Allem, was das Schauspiel betraf, las eifrig die Berichte darüber in den öffentlichen Blättern, denen ich zuweilen Beiträge gab, und da mein Eifer in seiner Unruhe alle Gelegenheit suchte, die erlangte Kenntniß in Thätigkeit zu bringen, so war ich bald mit den vorzüglichsten Schauspielern und Schauspielerinnen in näherer Bekanntschaft, ich wurde von ihnen in ihre Heiligthümer gezogen und befand mich eben so oft wahrend der Vorstellung auf der Bühne und in ihren Ankleidezimmern, als unter den Zuschauern. an einer glücklichen Vorstellung haben, neben dem Ganzen treten zugleich die einzelnen Bestandtheile deutlicher vor Augen, und indem die Gegenstände der Vergleichung in dem kürzesten Zeitraum zusammengedrängt folgen, bildet sich unmerklich der größte Scharfsinn der Beurtheilung, die genaueste Uebersicht des Ganzen und die leiseste Würdigung des Einzelnen, mit einem Worte, es entstehen Vertraute und Liebhaber der Bühne, wie deren die französische in Paris zu ihrem größten Vortheil so viele zählt, und wie Goethe deren einige als Serlo's größten Beistand in Wilhelm Meister schildert. So ging es auch mir, ich lernte das Vergnügen begreifen, mit welchem die täglichen Schauspielfreunde auch den abgeschmacktesten und wiederholtesten Vorstellungen zusehen, und erstaunte über die zahllosen Bemerkungen und Aufschlüsse, die jeder neue Abend mir gab. Ich nahm unwillkürlich Theil an Allem, was das Schauspiel betraf, las eifrig die Berichte darüber in den öffentlichen Blättern, denen ich zuweilen Beiträge gab, und da mein Eifer in seiner Unruhe alle Gelegenheit suchte, die erlangte Kenntniß in Thätigkeit zu bringen, so war ich bald mit den vorzüglichsten Schauspielern und Schauspielerinnen in näherer Bekanntschaft, ich wurde von ihnen in ihre Heiligthümer gezogen und befand mich eben so oft wahrend der Vorstellung auf der Bühne und in ihren Ankleidezimmern, als unter den Zuschauern. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="0"> <p><pb facs="#f0011"/> an einer glücklichen Vorstellung haben, neben dem Ganzen treten zugleich die einzelnen Bestandtheile deutlicher vor Augen, und indem die Gegenstände der Vergleichung in dem kürzesten Zeitraum zusammengedrängt folgen, bildet sich unmerklich der größte Scharfsinn der Beurtheilung, die genaueste Uebersicht des Ganzen und die leiseste Würdigung des Einzelnen, mit einem Worte, es entstehen Vertraute und Liebhaber der Bühne, wie deren die französische in Paris zu ihrem größten Vortheil so viele zählt, und wie Goethe deren einige als Serlo's größten Beistand in Wilhelm Meister schildert. So ging es auch mir, ich lernte das Vergnügen begreifen, mit welchem die täglichen Schauspielfreunde auch den abgeschmacktesten und wiederholtesten Vorstellungen zusehen, und erstaunte über die zahllosen Bemerkungen und Aufschlüsse, die jeder neue Abend mir gab. Ich nahm unwillkürlich Theil an Allem, was das Schauspiel betraf, las eifrig die Berichte darüber in den öffentlichen Blättern, denen ich zuweilen Beiträge gab, und da mein Eifer in seiner Unruhe alle Gelegenheit suchte, die erlangte Kenntniß in Thätigkeit zu bringen, so war ich bald mit den vorzüglichsten Schauspielern und Schauspielerinnen in näherer Bekanntschaft, ich wurde von ihnen in ihre Heiligthümer gezogen und befand mich eben so oft wahrend der Vorstellung auf der Bühne und in ihren Ankleidezimmern, als unter den Zuschauern.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0011]
an einer glücklichen Vorstellung haben, neben dem Ganzen treten zugleich die einzelnen Bestandtheile deutlicher vor Augen, und indem die Gegenstände der Vergleichung in dem kürzesten Zeitraum zusammengedrängt folgen, bildet sich unmerklich der größte Scharfsinn der Beurtheilung, die genaueste Uebersicht des Ganzen und die leiseste Würdigung des Einzelnen, mit einem Worte, es entstehen Vertraute und Liebhaber der Bühne, wie deren die französische in Paris zu ihrem größten Vortheil so viele zählt, und wie Goethe deren einige als Serlo's größten Beistand in Wilhelm Meister schildert. So ging es auch mir, ich lernte das Vergnügen begreifen, mit welchem die täglichen Schauspielfreunde auch den abgeschmacktesten und wiederholtesten Vorstellungen zusehen, und erstaunte über die zahllosen Bemerkungen und Aufschlüsse, die jeder neue Abend mir gab. Ich nahm unwillkürlich Theil an Allem, was das Schauspiel betraf, las eifrig die Berichte darüber in den öffentlichen Blättern, denen ich zuweilen Beiträge gab, und da mein Eifer in seiner Unruhe alle Gelegenheit suchte, die erlangte Kenntniß in Thätigkeit zu bringen, so war ich bald mit den vorzüglichsten Schauspielern und Schauspielerinnen in näherer Bekanntschaft, ich wurde von ihnen in ihre Heiligthümer gezogen und befand mich eben so oft wahrend der Vorstellung auf der Bühne und in ihren Ankleidezimmern, als unter den Zuschauern.
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Zitationshilfe: | Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ense_liebe_1910/11>, abgerufen am 17.02.2025. |