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Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Zwei Frauen theilten damals die allgemeine Gunst des Publicums, beide waren schön von Gestalt, angenehm im Betragen und von ausgezeichneten Talenten für die Darstellung, doch in jedem dieser Stücke entschiedene Gegensätze von einander. Die eine, Therese, glänzte durch feinere Bildung, Klugheit und Verstand, durch freien Sinn und glückliche Belesenheit, dabei lebte sie ihre muntern Jugendtage mit vergnügtem Herzen offen und anspruchlos dahin. Die andere, Eugenia, suchte mehr die stille Verborgenheit; ihre Handlungen zeugten von einer eigenwilligen, hartnäckigen Gemüthsart, ihre Freundlichkeit verläugnete niemals einigen Ernst, welcher bewundernde Achtung dem erregtesten Wohlgefallen vorzog, Verstand hatte sie weniger, aber in jedem Tone, den sie aussprach, klang eine geheime Innigkeit des Gefühls, und diese goß über alle ihre andern Eigenschaften eine solch sittsame Anmuth, daß selbst die ungefälligen Seiten ihres Wesens den Herzen gefährlich wurden, eine Anmuth, die durch den außerordentlichsten Reiz körperlicher Vollkommenheiten unwiderstehlich wurde. Hörte man Jener zu große Freiheit vorwerfen, so durfte man an Dieser wohl eine zu große Befangenheit tadeln, die ihren Umgang wie ihr Spiel mitunter etwas peinlich machte. Als ich Beide persönlich kennen lernte, war mir dieser Unterschied schon großentheils von der Bühne herab klar geworden, denn man konnte, so schien es mir, mit Recht sagen, daß Jede genau sich

Zwei Frauen theilten damals die allgemeine Gunst des Publicums, beide waren schön von Gestalt, angenehm im Betragen und von ausgezeichneten Talenten für die Darstellung, doch in jedem dieser Stücke entschiedene Gegensätze von einander. Die eine, Therese, glänzte durch feinere Bildung, Klugheit und Verstand, durch freien Sinn und glückliche Belesenheit, dabei lebte sie ihre muntern Jugendtage mit vergnügtem Herzen offen und anspruchlos dahin. Die andere, Eugenia, suchte mehr die stille Verborgenheit; ihre Handlungen zeugten von einer eigenwilligen, hartnäckigen Gemüthsart, ihre Freundlichkeit verläugnete niemals einigen Ernst, welcher bewundernde Achtung dem erregtesten Wohlgefallen vorzog, Verstand hatte sie weniger, aber in jedem Tone, den sie aussprach, klang eine geheime Innigkeit des Gefühls, und diese goß über alle ihre andern Eigenschaften eine solch sittsame Anmuth, daß selbst die ungefälligen Seiten ihres Wesens den Herzen gefährlich wurden, eine Anmuth, die durch den außerordentlichsten Reiz körperlicher Vollkommenheiten unwiderstehlich wurde. Hörte man Jener zu große Freiheit vorwerfen, so durfte man an Dieser wohl eine zu große Befangenheit tadeln, die ihren Umgang wie ihr Spiel mitunter etwas peinlich machte. Als ich Beide persönlich kennen lernte, war mir dieser Unterschied schon großentheils von der Bühne herab klar geworden, denn man konnte, so schien es mir, mit Recht sagen, daß Jede genau sich

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[0012] Zwei Frauen theilten damals die allgemeine Gunst des Publicums, beide waren schön von Gestalt, angenehm im Betragen und von ausgezeichneten Talenten für die Darstellung, doch in jedem dieser Stücke entschiedene Gegensätze von einander. Die eine, Therese, glänzte durch feinere Bildung, Klugheit und Verstand, durch freien Sinn und glückliche Belesenheit, dabei lebte sie ihre muntern Jugendtage mit vergnügtem Herzen offen und anspruchlos dahin. Die andere, Eugenia, suchte mehr die stille Verborgenheit; ihre Handlungen zeugten von einer eigenwilligen, hartnäckigen Gemüthsart, ihre Freundlichkeit verläugnete niemals einigen Ernst, welcher bewundernde Achtung dem erregtesten Wohlgefallen vorzog, Verstand hatte sie weniger, aber in jedem Tone, den sie aussprach, klang eine geheime Innigkeit des Gefühls, und diese goß über alle ihre andern Eigenschaften eine solch sittsame Anmuth, daß selbst die ungefälligen Seiten ihres Wesens den Herzen gefährlich wurden, eine Anmuth, die durch den außerordentlichsten Reiz körperlicher Vollkommenheiten unwiderstehlich wurde. Hörte man Jener zu große Freiheit vorwerfen, so durfte man an Dieser wohl eine zu große Befangenheit tadeln, die ihren Umgang wie ihr Spiel mitunter etwas peinlich machte. Als ich Beide persönlich kennen lernte, war mir dieser Unterschied schon großentheils von der Bühne herab klar geworden, denn man konnte, so schien es mir, mit Recht sagen, daß Jede genau sich

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ense_liebe_1910/12>, abgerufen am 18.04.2024.