Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Tage entgegensetzten. Eines Abends wurde von Einigen beschlossen, nach Wien zu gehen, und einer meiner Freunde, der dort ernstlich verliebt und voller Heirathsgedanken war, beredete mich, ihn zu begleiten, welches ich endlich ihm zu Gefallen zusagte, während aus meiner Seele der flüchtige Reiz des Vergnügens, dem wir entgegengingen, mit dem ersten Aufwallen auch wieder entschwunden war. Die aufgehende Sonne fand uns schon zu Pferde, um gegen den schneidenden Ostwind auf dem harten Schnee gegen Wien zu traben, wo wir wohlbehalten anlangten. Die Stimmung der Freude läßt sich nicht erzwingen; ich vermied die häufigen Einladungen meiner zahlreichen Bekannten und lebte sehr eingezogen. Wenn mein Freund, durch seine Angelegenheit immer beschäftigt und dem süßesten Glücke nachhängend, mich Abends allein ließ, fiel meine Wahl unter allen Unterhaltungen meist auf das Schauspiel, das zu der Zeit in Wien nicht eben schlecht war. Die Bühne, wenn man sie täglich besucht, erscheint bald in einem ganz andern Lichte, als wenn man ihr nur zufällige, von Mißmuth und Zerstreuung aufgelös'te Stunden schenkt; die mannichfachsten Bedingnisse wirksamer Aufführung werden nach und nach deutlich, man erkennt die oft sehr verhüllten Triebfedern, welche den angenehmen Eindruck hervorbringen, der Verstand lernt genau und schnell den Antheil absondern, welchen Ueberlegung, Bewußtsein, Laune, Uebung, Gewohnheit und Zufall Tage entgegensetzten. Eines Abends wurde von Einigen beschlossen, nach Wien zu gehen, und einer meiner Freunde, der dort ernstlich verliebt und voller Heirathsgedanken war, beredete mich, ihn zu begleiten, welches ich endlich ihm zu Gefallen zusagte, während aus meiner Seele der flüchtige Reiz des Vergnügens, dem wir entgegengingen, mit dem ersten Aufwallen auch wieder entschwunden war. Die aufgehende Sonne fand uns schon zu Pferde, um gegen den schneidenden Ostwind auf dem harten Schnee gegen Wien zu traben, wo wir wohlbehalten anlangten. Die Stimmung der Freude läßt sich nicht erzwingen; ich vermied die häufigen Einladungen meiner zahlreichen Bekannten und lebte sehr eingezogen. Wenn mein Freund, durch seine Angelegenheit immer beschäftigt und dem süßesten Glücke nachhängend, mich Abends allein ließ, fiel meine Wahl unter allen Unterhaltungen meist auf das Schauspiel, das zu der Zeit in Wien nicht eben schlecht war. Die Bühne, wenn man sie täglich besucht, erscheint bald in einem ganz andern Lichte, als wenn man ihr nur zufällige, von Mißmuth und Zerstreuung aufgelös'te Stunden schenkt; die mannichfachsten Bedingnisse wirksamer Aufführung werden nach und nach deutlich, man erkennt die oft sehr verhüllten Triebfedern, welche den angenehmen Eindruck hervorbringen, der Verstand lernt genau und schnell den Antheil absondern, welchen Ueberlegung, Bewußtsein, Laune, Uebung, Gewohnheit und Zufall <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="0"> <p><pb facs="#f0010"/> Tage entgegensetzten. Eines Abends wurde von Einigen beschlossen, nach Wien zu gehen, und einer meiner Freunde, der dort ernstlich verliebt und voller Heirathsgedanken war, beredete mich, ihn zu begleiten, welches ich endlich ihm zu Gefallen zusagte, während aus meiner Seele der flüchtige Reiz des Vergnügens, dem wir entgegengingen, mit dem ersten Aufwallen auch wieder entschwunden war. Die aufgehende Sonne fand uns schon zu Pferde, um gegen den schneidenden Ostwind auf dem harten Schnee gegen Wien zu traben, wo wir wohlbehalten anlangten.</p><lb/> <p>Die Stimmung der Freude läßt sich nicht erzwingen; ich vermied die häufigen Einladungen meiner zahlreichen Bekannten und lebte sehr eingezogen. Wenn mein Freund, durch seine Angelegenheit immer beschäftigt und dem süßesten Glücke nachhängend, mich Abends allein ließ, fiel meine Wahl unter allen Unterhaltungen meist auf das Schauspiel, das zu der Zeit in Wien nicht eben schlecht war. Die Bühne, wenn man sie täglich besucht, erscheint bald in einem ganz andern Lichte, als wenn man ihr nur zufällige, von Mißmuth und Zerstreuung aufgelös'te Stunden schenkt; die mannichfachsten Bedingnisse wirksamer Aufführung werden nach und nach deutlich, man erkennt die oft sehr verhüllten Triebfedern, welche den angenehmen Eindruck hervorbringen, der Verstand lernt genau und schnell den Antheil absondern, welchen Ueberlegung, Bewußtsein, Laune, Uebung, Gewohnheit und Zufall<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0010]
Tage entgegensetzten. Eines Abends wurde von Einigen beschlossen, nach Wien zu gehen, und einer meiner Freunde, der dort ernstlich verliebt und voller Heirathsgedanken war, beredete mich, ihn zu begleiten, welches ich endlich ihm zu Gefallen zusagte, während aus meiner Seele der flüchtige Reiz des Vergnügens, dem wir entgegengingen, mit dem ersten Aufwallen auch wieder entschwunden war. Die aufgehende Sonne fand uns schon zu Pferde, um gegen den schneidenden Ostwind auf dem harten Schnee gegen Wien zu traben, wo wir wohlbehalten anlangten.
Die Stimmung der Freude läßt sich nicht erzwingen; ich vermied die häufigen Einladungen meiner zahlreichen Bekannten und lebte sehr eingezogen. Wenn mein Freund, durch seine Angelegenheit immer beschäftigt und dem süßesten Glücke nachhängend, mich Abends allein ließ, fiel meine Wahl unter allen Unterhaltungen meist auf das Schauspiel, das zu der Zeit in Wien nicht eben schlecht war. Die Bühne, wenn man sie täglich besucht, erscheint bald in einem ganz andern Lichte, als wenn man ihr nur zufällige, von Mißmuth und Zerstreuung aufgelös'te Stunden schenkt; die mannichfachsten Bedingnisse wirksamer Aufführung werden nach und nach deutlich, man erkennt die oft sehr verhüllten Triebfedern, welche den angenehmen Eindruck hervorbringen, der Verstand lernt genau und schnell den Antheil absondern, welchen Ueberlegung, Bewußtsein, Laune, Uebung, Gewohnheit und Zufall
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Zitationshilfe: | Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ense_liebe_1910/10>, abgerufen am 17.02.2025. |