Hieroglyphe im zauberischen Mondschein. Er schloß das Fenster fast erschrocken und warf sich auf sein Ru¬ hebett hin, wo er als wie ein Fieberkranker in die wun¬ derlichsten Träume versank.
Bianka aber saß noch lange auf der Terrasse oben. Alle andern hatten sich zur Ruhe begeben, hin und wieder erwachte schon manche Lerche, mit ungewissem Liede hoch durch die stille Luft schweifend; die Wipfel der Bäume fingen an sich unten zu rühren, falbe Mor¬ genlichter flogen wechselnd über ihr vermachtes, von den freigelassenen Locken nachläßig umwalltes Gesicht. -- Man sagt, daß einem Mädchen, wenn sie in einem, aus neunerlei Blumen geflochtenen Kranze einschläft, ihr künftiger Bräutigam im Traume erscheine. So ein¬ geschlummert hatte Bianka nach jenem Abend bei den Zelten Florio'n im Traume gesehen. -- Nun war alles Lüge, er war ja so zerstreut, so kalt und fremde! -- Sie zerflückte die trügerischen Blumen, die sie bis jetzt wie einen Brautkranz aufbewahrt. Dann lehnte sie die Stirn an das kalte Geländer und weinte aus Herzens¬ grunde.
Mehrere Tage waren seitdem vergangen, da be¬ fand sich Florio eines Nachmittags bei Donati auf sei¬ nem Landhause vor der Stadt. An einem mit Früch¬ ten und kühlem Wein besetzten Tische verbrachten sie die schwülen Stunden unter anmuthigen Gesprächen, bis die Sonne schon tief hinabgesunken war. Wäh¬ renddeß ließ Donati seinen Diener auf der Guitarre
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Hieroglyphe im zauberiſchen Mondſchein. Er ſchloß das Fenſter faſt erſchrocken und warf ſich auf ſein Ru¬ hebett hin, wo er als wie ein Fieberkranker in die wun¬ derlichſten Traͤume verſank.
Bianka aber ſaß noch lange auf der Terraſſe oben. Alle andern hatten ſich zur Ruhe begeben, hin und wieder erwachte ſchon manche Lerche, mit ungewiſſem Liede hoch durch die ſtille Luft ſchweifend; die Wipfel der Baͤume fingen an ſich unten zu ruͤhren, falbe Mor¬ genlichter flogen wechſelnd uͤber ihr vermachtes, von den freigelaſſenen Locken nachlaͤßig umwalltes Geſicht. — Man ſagt, daß einem Maͤdchen, wenn ſie in einem, aus neunerlei Blumen geflochtenen Kranze einſchlaͤft, ihr kuͤnftiger Braͤutigam im Traume erſcheine. So ein¬ geſchlummert hatte Bianka nach jenem Abend bei den Zelten Florio'n im Traume geſehen. — Nun war alles Luͤge, er war ja ſo zerſtreut, ſo kalt und fremde! — Sie zerfluͤckte die truͤgeriſchen Blumen, die ſie bis jetzt wie einen Brautkranz aufbewahrt. Dann lehnte ſie die Stirn an das kalte Gelaͤnder und weinte aus Herzens¬ grunde.
Mehrere Tage waren ſeitdem vergangen, da be¬ fand ſich Florio eines Nachmittags bei Donati auf ſei¬ nem Landhauſe vor der Stadt. An einem mit Fruͤch¬ ten und kuͤhlem Wein beſetzten Tiſche verbrachten ſie die ſchwuͤlen Stunden unter anmuthigen Geſpraͤchen, bis die Sonne ſchon tief hinabgeſunken war. Waͤh¬ renddeß ließ Donati ſeinen Diener auf der Guitarre
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Hieroglyphe im zauberiſchen Mondſchein. Er ſchloß
das Fenſter faſt erſchrocken und warf ſich auf ſein Ru¬
hebett hin, wo er als wie ein Fieberkranker in die wun¬
derlichſten Traͤume verſank.
Bianka aber ſaß noch lange auf der Terraſſe oben.
Alle andern hatten ſich zur Ruhe begeben, hin und
wieder erwachte ſchon manche Lerche, mit ungewiſſem
Liede hoch durch die ſtille Luft ſchweifend; die Wipfel
der Baͤume fingen an ſich unten zu ruͤhren, falbe Mor¬
genlichter flogen wechſelnd uͤber ihr vermachtes, von
den freigelaſſenen Locken nachlaͤßig umwalltes Geſicht. —
Man ſagt, daß einem Maͤdchen, wenn ſie in einem, aus
neunerlei Blumen geflochtenen Kranze einſchlaͤft, ihr
kuͤnftiger Braͤutigam im Traume erſcheine. So ein¬
geſchlummert hatte Bianka nach jenem Abend bei den
Zelten Florio'n im Traume geſehen. — Nun war alles
Luͤge, er war ja ſo zerſtreut, ſo kalt und fremde! —
Sie zerfluͤckte die truͤgeriſchen Blumen, die ſie bis jetzt
wie einen Brautkranz aufbewahrt. Dann lehnte ſie die
Stirn an das kalte Gelaͤnder und weinte aus Herzens¬
grunde.
Mehrere Tage waren ſeitdem vergangen, da be¬
fand ſich Florio eines Nachmittags bei Donati auf ſei¬
nem Landhauſe vor der Stadt. An einem mit Fruͤch¬
ten und kuͤhlem Wein beſetzten Tiſche verbrachten ſie
die ſchwuͤlen Stunden unter anmuthigen Geſpraͤchen,
bis die Sonne ſchon tief hinabgeſunken war. Waͤh¬
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Im Unterschied zur Novelle „Aus dem Leben eines T… [mehr]
Im Unterschied zur Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“ erschien die Novelle „Das Marmorbild“ erstmalig 1819 im „Frauentaschenbuch für das Jahr 1819“ herausgegeben von Friedrich de La Motte-Fouqué.
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Eichendorff, Joseph von: Aus dem Leben eines Taugenichts und das Marmorbild. Berlin, 1826, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_taugenichts_1826/189>, abgerufen am 28.07.2024.
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