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Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834.

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mals mehr wieder. -- Otto sah sie verwundert an,
dann las er wieder weiter. Es war ein langer Ro¬
manzencyclus, er hatte ihn in der glücklichsten Jugend¬
zeit gedichtet und seitdem nicht wieder gesehn; jetzt nach
so langer Zeit, in der mährchenhaften Umgebung, er¬
griff es ihn selber wunderbar, er las aus ganzer Seele
fort und immer fort. Zuletzt beim Umschlagen des
Blattes blickte er einmal flüchtig zur Seite -- die
schöne Frau lag fest eingeschlafen neben ihm. -- Er
schwieg, ihn schauerte heimlich, denn die schlanke Ge¬
stalt in dem weißen Nachtgewand ruhte halbabgewen¬
det, den einen Arm nachlässig über ihr Haupt geschla¬
gen, gerade wie die Statue vorhin am Weiher. In
dieser plötzlichen Stille öffnete sich auf einmal leise die
Thür, ein schwarzgelocktes Mädchenköpfchen guckte her¬
ein, überblickte spöttisch den Schauplatz dieser tiefen
Ruhe und winkte ihm dann, ihr zu folgen. Still, still
-- sagte sie, als er heraustrat, ihn an der Hand
schnell fortführend -- jetzt müssen Sie sacht fort, der
Mond ist eben untergegangen vor Langerweile. Draußen
sang sie halb für sich:

Ein Fink saß schlank auf grünem Reis:
Pink, Pink!
Der Jäger da mit rechtem Fleiß
Zu zielen an und messen fing
Und zielt' und dacht': jetzt bist du mein --
Fort war das lust'ge Vögelein:
Pink, pink! mußt flinker seyn!

mals mehr wieder. — Otto ſah ſie verwundert an,
dann las er wieder weiter. Es war ein langer Ro¬
manzencyclus, er hatte ihn in der gluͤcklichſten Jugend¬
zeit gedichtet und ſeitdem nicht wieder geſehn; jetzt nach
ſo langer Zeit, in der maͤhrchenhaften Umgebung, er¬
griff es ihn ſelber wunderbar, er las aus ganzer Seele
fort und immer fort. Zuletzt beim Umſchlagen des
Blattes blickte er einmal fluͤchtig zur Seite — die
ſchoͤne Frau lag feſt eingeſchlafen neben ihm. — Er
ſchwieg, ihn ſchauerte heimlich, denn die ſchlanke Ge¬
ſtalt in dem weißen Nachtgewand ruhte halbabgewen¬
det, den einen Arm nachlaͤſſig uͤber ihr Haupt geſchla¬
gen, gerade wie die Statue vorhin am Weiher. In
dieſer ploͤtzlichen Stille oͤffnete ſich auf einmal leiſe die
Thuͤr, ein ſchwarzgelocktes Maͤdchenkoͤpfchen guckte her¬
ein, uͤberblickte ſpoͤttiſch den Schauplatz dieſer tiefen
Ruhe und winkte ihm dann, ihr zu folgen. Still, ſtill
— ſagte ſie, als er heraustrat, ihn an der Hand
ſchnell fortfuͤhrend — jetzt muͤſſen Sie ſacht fort, der
Mond iſt eben untergegangen vor Langerweile. Draußen
ſang ſie halb fuͤr ſich:

Ein Fink ſaß ſchlank auf gruͤnem Reis:
Pink, Pink!
Der Jaͤger da mit rechtem Fleiß
Zu zielen an und meſſen fing
Und zielt' und dacht': jetzt biſt du mein —
Fort war das luſt'ge Voͤgelein:
Pink, pink! mußt flinker ſeyn!

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[313/0320] mals mehr wieder. — Otto ſah ſie verwundert an, dann las er wieder weiter. Es war ein langer Ro¬ manzencyclus, er hatte ihn in der gluͤcklichſten Jugend¬ zeit gedichtet und ſeitdem nicht wieder geſehn; jetzt nach ſo langer Zeit, in der maͤhrchenhaften Umgebung, er¬ griff es ihn ſelber wunderbar, er las aus ganzer Seele fort und immer fort. Zuletzt beim Umſchlagen des Blattes blickte er einmal fluͤchtig zur Seite — die ſchoͤne Frau lag feſt eingeſchlafen neben ihm. — Er ſchwieg, ihn ſchauerte heimlich, denn die ſchlanke Ge¬ ſtalt in dem weißen Nachtgewand ruhte halbabgewen¬ det, den einen Arm nachlaͤſſig uͤber ihr Haupt geſchla¬ gen, gerade wie die Statue vorhin am Weiher. In dieſer ploͤtzlichen Stille oͤffnete ſich auf einmal leiſe die Thuͤr, ein ſchwarzgelocktes Maͤdchenkoͤpfchen guckte her¬ ein, uͤberblickte ſpoͤttiſch den Schauplatz dieſer tiefen Ruhe und winkte ihm dann, ihr zu folgen. Still, ſtill — ſagte ſie, als er heraustrat, ihn an der Hand ſchnell fortfuͤhrend — jetzt muͤſſen Sie ſacht fort, der Mond iſt eben untergegangen vor Langerweile. Draußen ſang ſie halb fuͤr ſich: Ein Fink ſaß ſchlank auf gruͤnem Reis: Pink, Pink! Der Jaͤger da mit rechtem Fleiß Zu zielen an und meſſen fing Und zielt' und dacht': jetzt biſt du mein — Fort war das luſt'ge Voͤgelein: Pink, pink! mußt flinker ſeyn!

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/320>, abgerufen am 22.05.2024.