mals mehr wieder. -- Otto sah sie verwundert an, dann las er wieder weiter. Es war ein langer Ro¬ manzencyclus, er hatte ihn in der glücklichsten Jugend¬ zeit gedichtet und seitdem nicht wieder gesehn; jetzt nach so langer Zeit, in der mährchenhaften Umgebung, er¬ griff es ihn selber wunderbar, er las aus ganzer Seele fort und immer fort. Zuletzt beim Umschlagen des Blattes blickte er einmal flüchtig zur Seite -- die schöne Frau lag fest eingeschlafen neben ihm. -- Er schwieg, ihn schauerte heimlich, denn die schlanke Ge¬ stalt in dem weißen Nachtgewand ruhte halbabgewen¬ det, den einen Arm nachlässig über ihr Haupt geschla¬ gen, gerade wie die Statue vorhin am Weiher. In dieser plötzlichen Stille öffnete sich auf einmal leise die Thür, ein schwarzgelocktes Mädchenköpfchen guckte her¬ ein, überblickte spöttisch den Schauplatz dieser tiefen Ruhe und winkte ihm dann, ihr zu folgen. Still, still -- sagte sie, als er heraustrat, ihn an der Hand schnell fortführend -- jetzt müssen Sie sacht fort, der Mond ist eben untergegangen vor Langerweile. Draußen sang sie halb für sich:
Ein Fink saß schlank auf grünem Reis:
Pink, Pink!
Der Jäger da mit rechtem Fleiß Zu zielen an und messen fing Und zielt' und dacht': jetzt bist du mein -- Fort war das lust'ge Vögelein: Pink, pink! mußt flinker seyn!
mals mehr wieder. — Otto ſah ſie verwundert an, dann las er wieder weiter. Es war ein langer Ro¬ manzencyclus, er hatte ihn in der gluͤcklichſten Jugend¬ zeit gedichtet und ſeitdem nicht wieder geſehn; jetzt nach ſo langer Zeit, in der maͤhrchenhaften Umgebung, er¬ griff es ihn ſelber wunderbar, er las aus ganzer Seele fort und immer fort. Zuletzt beim Umſchlagen des Blattes blickte er einmal fluͤchtig zur Seite — die ſchoͤne Frau lag feſt eingeſchlafen neben ihm. — Er ſchwieg, ihn ſchauerte heimlich, denn die ſchlanke Ge¬ ſtalt in dem weißen Nachtgewand ruhte halbabgewen¬ det, den einen Arm nachlaͤſſig uͤber ihr Haupt geſchla¬ gen, gerade wie die Statue vorhin am Weiher. In dieſer ploͤtzlichen Stille oͤffnete ſich auf einmal leiſe die Thuͤr, ein ſchwarzgelocktes Maͤdchenkoͤpfchen guckte her¬ ein, uͤberblickte ſpoͤttiſch den Schauplatz dieſer tiefen Ruhe und winkte ihm dann, ihr zu folgen. Still, ſtill — ſagte ſie, als er heraustrat, ihn an der Hand ſchnell fortfuͤhrend — jetzt muͤſſen Sie ſacht fort, der Mond iſt eben untergegangen vor Langerweile. Draußen ſang ſie halb fuͤr ſich:
Ein Fink ſaß ſchlank auf gruͤnem Reis:
Pink, Pink!
Der Jaͤger da mit rechtem Fleiß Zu zielen an und meſſen fing Und zielt' und dacht': jetzt biſt du mein — Fort war das luſt'ge Voͤgelein: Pink, pink! mußt flinker ſeyn!
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0320"n="313"/>
mals mehr wieder. — Otto ſah ſie verwundert an,<lb/>
dann las er wieder weiter. Es war ein langer Ro¬<lb/>
manzencyclus, er hatte ihn in der gluͤcklichſten Jugend¬<lb/>
zeit gedichtet und ſeitdem nicht wieder geſehn; jetzt nach<lb/>ſo langer Zeit, in der maͤhrchenhaften Umgebung, er¬<lb/>
griff es ihn ſelber wunderbar, er las aus ganzer Seele<lb/>
fort und immer fort. Zuletzt beim Umſchlagen des<lb/>
Blattes blickte er einmal fluͤchtig zur Seite — die<lb/>ſchoͤne Frau lag feſt eingeſchlafen neben ihm. — Er<lb/>ſchwieg, ihn ſchauerte heimlich, denn die ſchlanke Ge¬<lb/>ſtalt in dem weißen Nachtgewand ruhte halbabgewen¬<lb/>
det, den einen Arm nachlaͤſſig uͤber ihr Haupt geſchla¬<lb/>
gen, gerade wie die Statue vorhin am Weiher. In<lb/>
dieſer ploͤtzlichen Stille oͤffnete ſich auf einmal leiſe die<lb/>
Thuͤr, ein ſchwarzgelocktes Maͤdchenkoͤpfchen guckte her¬<lb/>
ein, uͤberblickte ſpoͤttiſch den Schauplatz dieſer tiefen<lb/>
Ruhe und winkte ihm dann, ihr zu folgen. Still, ſtill<lb/>—ſagte ſie, als er heraustrat, ihn an der Hand<lb/>ſchnell fortfuͤhrend — jetzt muͤſſen Sie ſacht fort, der<lb/>
Mond iſt eben untergegangen vor Langerweile. Draußen<lb/>ſang ſie halb fuͤr ſich:<lb/><lgtype="poem"><l>Ein Fink ſaß ſchlank auf gruͤnem Reis:</l><lb/><lrendition="#et">Pink, Pink!</l><lb/><l>Der Jaͤger da mit rechtem Fleiß</l><lb/><l>Zu zielen an und meſſen fing</l><lb/><l>Und zielt' und dacht': jetzt biſt du mein —</l><lb/><l>Fort war das luſt'ge Voͤgelein:</l><lb/><l>Pink, pink! mußt flinker ſeyn!</l><lb/></lg></p></div></div></body></text></TEI>
[313/0320]
mals mehr wieder. — Otto ſah ſie verwundert an,
dann las er wieder weiter. Es war ein langer Ro¬
manzencyclus, er hatte ihn in der gluͤcklichſten Jugend¬
zeit gedichtet und ſeitdem nicht wieder geſehn; jetzt nach
ſo langer Zeit, in der maͤhrchenhaften Umgebung, er¬
griff es ihn ſelber wunderbar, er las aus ganzer Seele
fort und immer fort. Zuletzt beim Umſchlagen des
Blattes blickte er einmal fluͤchtig zur Seite — die
ſchoͤne Frau lag feſt eingeſchlafen neben ihm. — Er
ſchwieg, ihn ſchauerte heimlich, denn die ſchlanke Ge¬
ſtalt in dem weißen Nachtgewand ruhte halbabgewen¬
det, den einen Arm nachlaͤſſig uͤber ihr Haupt geſchla¬
gen, gerade wie die Statue vorhin am Weiher. In
dieſer ploͤtzlichen Stille oͤffnete ſich auf einmal leiſe die
Thuͤr, ein ſchwarzgelocktes Maͤdchenkoͤpfchen guckte her¬
ein, uͤberblickte ſpoͤttiſch den Schauplatz dieſer tiefen
Ruhe und winkte ihm dann, ihr zu folgen. Still, ſtill
— ſagte ſie, als er heraustrat, ihn an der Hand
ſchnell fortfuͤhrend — jetzt muͤſſen Sie ſacht fort, der
Mond iſt eben untergegangen vor Langerweile. Draußen
ſang ſie halb fuͤr ſich:
Ein Fink ſaß ſchlank auf gruͤnem Reis:
Pink, Pink!
Der Jaͤger da mit rechtem Fleiß
Zu zielen an und meſſen fing
Und zielt' und dacht': jetzt biſt du mein —
Fort war das luſt'ge Voͤgelein:
Pink, pink! mußt flinker ſeyn!
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/320>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.