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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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nicht durchaus neu. Plato, Leonardo da Vinci und
viele andere Treffliche haben im Einzelnen vor mir das¬
selbige gefunden und gesagt; aber daß ich es auch fand,
daß ich es wieder sagte, und daß ich dafür strebte, in
einer confusen Welt dem Wahren wieder Eingang zu
verschaffen, das ist mein Verdienst."

"Und denn, man muß das Wahre immer wiederho¬
len, weil auch der Irrthum um uns her immer wieder
geprediget wird, und zwar nicht von Einzelnen, sondern
von der Masse. In Zeitungen und Encyklopädien, auf
Schulen und Universitäten, überall ist der Irrthum oben
auf, und es ist ihm wohl und behaglich, im Gefühl der
Majorität, die auf seiner Seite ist."

"Oft lehret man auch Wahrheit und Irrthum zu¬
gleich und hält sich an letzteren. So las ich vor eini¬
gen Tagen in einer englischen Encyklopädie die Lehre
von der Entstehung des Blauen. Obenan stand die
wahre Ansicht von Leonardo da Vinci; mit der größten
Ruhe aber folgte zugleich der Newtonische Irrthum, und
zwar mit dem Bemerken, daß man sich an diesen zu
halten habe, weil er das allgemein Angenommene sey."

Ich mußte mich lachend verwundern, als ich dieses
hörte. Jede Wachskerze, sagte ich, jeder erleuchtet[e]
Küchenrauch, der etwas Dunkeles hinter sich hat, jeder
duftige Morgennebel, wenn er vor schattigen Stellen
liegt, überzeugen mich täglich von der Entstehung der
blauen Farbe und lehren mich die Bläue des Himmels

nicht durchaus neu. Plato, Leonardo da Vinci und
viele andere Treffliche haben im Einzelnen vor mir daſ¬
ſelbige gefunden und geſagt; aber daß ich es auch fand,
daß ich es wieder ſagte, und daß ich dafuͤr ſtrebte, in
einer confuſen Welt dem Wahren wieder Eingang zu
verſchaffen, das iſt mein Verdienſt.“

„Und denn, man muß das Wahre immer wiederho¬
len, weil auch der Irrthum um uns her immer wieder
geprediget wird, und zwar nicht von Einzelnen, ſondern
von der Maſſe. In Zeitungen und Encyklopaͤdien, auf
Schulen und Univerſitaͤten, uͤberall iſt der Irrthum oben
auf, und es iſt ihm wohl und behaglich, im Gefuͤhl der
Majoritaͤt, die auf ſeiner Seite iſt.“

„Oft lehret man auch Wahrheit und Irrthum zu¬
gleich und haͤlt ſich an letzteren. So las ich vor eini¬
gen Tagen in einer engliſchen Encyklopaͤdie die Lehre
von der Entſtehung des Blauen. Obenan ſtand die
wahre Anſicht von Leonardo da Vinci; mit der groͤßten
Ruhe aber folgte zugleich der Newtoniſche Irrthum, und
zwar mit dem Bemerken, daß man ſich an dieſen zu
halten habe, weil er das allgemein Angenommene ſey.“

Ich mußte mich lachend verwundern, als ich dieſes
hoͤrte. Jede Wachskerze, ſagte ich, jeder erleuchtet[e]
Kuͤchenrauch, der etwas Dunkeles hinter ſich hat, jeder
duftige Morgennebel, wenn er vor ſchattigen Stellen
liegt, uͤberzeugen mich taͤglich von der Entſtehung der
blauen Farbe und lehren mich die Blaͤue des Himmels

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[44/0054] nicht durchaus neu. Plato, Leonardo da Vinci und viele andere Treffliche haben im Einzelnen vor mir daſ¬ ſelbige gefunden und geſagt; aber daß ich es auch fand, daß ich es wieder ſagte, und daß ich dafuͤr ſtrebte, in einer confuſen Welt dem Wahren wieder Eingang zu verſchaffen, das iſt mein Verdienſt.“ „Und denn, man muß das Wahre immer wiederho¬ len, weil auch der Irrthum um uns her immer wieder geprediget wird, und zwar nicht von Einzelnen, ſondern von der Maſſe. In Zeitungen und Encyklopaͤdien, auf Schulen und Univerſitaͤten, uͤberall iſt der Irrthum oben auf, und es iſt ihm wohl und behaglich, im Gefuͤhl der Majoritaͤt, die auf ſeiner Seite iſt.“ „Oft lehret man auch Wahrheit und Irrthum zu¬ gleich und haͤlt ſich an letzteren. So las ich vor eini¬ gen Tagen in einer engliſchen Encyklopaͤdie die Lehre von der Entſtehung des Blauen. Obenan ſtand die wahre Anſicht von Leonardo da Vinci; mit der groͤßten Ruhe aber folgte zugleich der Newtoniſche Irrthum, und zwar mit dem Bemerken, daß man ſich an dieſen zu halten habe, weil er das allgemein Angenommene ſey.“ Ich mußte mich lachend verwundern, als ich dieſes hoͤrte. Jede Wachskerze, ſagte ich, jeder erleuchtete Kuͤchenrauch, der etwas Dunkeles hinter ſich hat, jeder duftige Morgennebel, wenn er vor ſchattigen Stellen liegt, uͤberzeugen mich taͤglich von der Entſtehung der blauen Farbe und lehren mich die Blaͤue des Himmels

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/54>, abgerufen am 07.05.2024.