Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich den andern. Wie kann nun da von Mein und Dein die Rede seyn! Man müßte wirklich selbst noch tief in der Philisterey stecken, wenn man auf die Entscheidung solcher Zweifel nur die mindeste Wichtigkeit legen wollte."
Etwas Ähnliches, sagte ich, kommt in der literari¬ schen Welt häufig vor, indem man z. B. an dieses oder jenes berühmten Mannes Originalität zweifelt, und die Quellen auszuspüren sucht, woher er seine Cultur hat.
"Das ist sehr lächerlich! sagte Goethe; man könnte eben so gut einen wohlgenährten Mann nach den Och¬ sen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegessen und die ihm Kräfte gegeben. Wir bringen wohl Fähigkeiten mit, aber unsere Entwickelung verdanken wir tausend Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns an¬ eignen was wir können und was uns gemäß ist. Ich verdanke den Griechen und Franzosen viel, ich bin Shak¬ speare, Sterne und Goldsmith Unendliches schuldig ge¬ worden. Allein damit sind die Quellen meiner Cultur nicht nachgewiesen; es würde ins Grenzenlose gehen und wäre auch nicht nöthig. Die Hauptsache ist, daß man eine Seele habe, die das Wahre liebt, und die es aufnimmt wo sie es findet."
"Überhaupt, fuhr Goethe fort, ist die Welt jetzt so alt, und es haben seit Jahrtausenden so viele bedeutende Menschen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr zu finden und zu sagen ist. Meine Farbenlehre ist auch
Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich den andern. Wie kann nun da von Mein und Dein die Rede ſeyn! Man muͤßte wirklich ſelbſt noch tief in der Philiſterey ſtecken, wenn man auf die Entſcheidung ſolcher Zweifel nur die mindeſte Wichtigkeit legen wollte.“
Etwas Ähnliches, ſagte ich, kommt in der literari¬ ſchen Welt haͤufig vor, indem man z. B. an dieſes oder jenes beruͤhmten Mannes Originalitaͤt zweifelt, und die Quellen auszuſpuͤren ſucht, woher er ſeine Cultur hat.
„Das iſt ſehr laͤcherlich! ſagte Goethe; man koͤnnte eben ſo gut einen wohlgenaͤhrten Mann nach den Och¬ ſen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegeſſen und die ihm Kraͤfte gegeben. Wir bringen wohl Faͤhigkeiten mit, aber unſere Entwickelung verdanken wir tauſend Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns an¬ eignen was wir koͤnnen und was uns gemaͤß iſt. Ich verdanke den Griechen und Franzoſen viel, ich bin Shak¬ ſpeare, Sterne und Goldſmith Unendliches ſchuldig ge¬ worden. Allein damit ſind die Quellen meiner Cultur nicht nachgewieſen; es wuͤrde ins Grenzenloſe gehen und waͤre auch nicht noͤthig. Die Hauptſache iſt, daß man eine Seele habe, die das Wahre liebt, und die es aufnimmt wo ſie es findet.“
„Überhaupt, fuhr Goethe fort, iſt die Welt jetzt ſo alt, und es haben ſeit Jahrtauſenden ſo viele bedeutende Menſchen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr zu finden und zu ſagen iſt. Meine Farbenlehre iſt auch
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[43/0053]
Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich
den andern. Wie kann nun da von Mein und Dein
die Rede ſeyn! Man muͤßte wirklich ſelbſt noch tief in
der Philiſterey ſtecken, wenn man auf die Entſcheidung
ſolcher Zweifel nur die mindeſte Wichtigkeit legen wollte.“
Etwas Ähnliches, ſagte ich, kommt in der literari¬
ſchen Welt haͤufig vor, indem man z. B. an dieſes oder
jenes beruͤhmten Mannes Originalitaͤt zweifelt, und die
Quellen auszuſpuͤren ſucht, woher er ſeine Cultur hat.
„Das iſt ſehr laͤcherlich! ſagte Goethe; man koͤnnte
eben ſo gut einen wohlgenaͤhrten Mann nach den Och¬
ſen, Schafen und Schweinen fragen, die er gegeſſen und
die ihm Kraͤfte gegeben. Wir bringen wohl Faͤhigkeiten
mit, aber unſere Entwickelung verdanken wir tauſend
Einwirkungen einer großen Welt, aus der wir uns an¬
eignen was wir koͤnnen und was uns gemaͤß iſt. Ich
verdanke den Griechen und Franzoſen viel, ich bin Shak¬
ſpeare, Sterne und Goldſmith Unendliches ſchuldig ge¬
worden. Allein damit ſind die Quellen meiner Cultur
nicht nachgewieſen; es wuͤrde ins Grenzenloſe gehen
und waͤre auch nicht noͤthig. Die Hauptſache iſt, daß
man eine Seele habe, die das Wahre liebt, und die es
aufnimmt wo ſie es findet.“
„Überhaupt, fuhr Goethe fort, iſt die Welt jetzt ſo
alt, und es haben ſeit Jahrtauſenden ſo viele bedeutende
Menſchen gelebt und gedacht, daß wenig Neues mehr
zu finden und zu ſagen iſt. Meine Farbenlehre iſt auch
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/53>, abgerufen am 22.11.2024.
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