"Da die Conception so alt ist, sagte Goethe, und ich seit funfzig Jahren darüber nachdenke, so hat sich das innere Material so sehr gehäuft, daß jetzt das Aus¬ scheiden und Ablehnen die schwere Operation ist. Die Erfindung des ganzen zweyten Theiles ist wirklich so alt wie ich sage. Aber daß ich ihn erst jetzt schreibe, nachdem ich über die weltlichen Dinge so viel klarer geworden, mag der Sache zu Gute kommen. Es geht mir damit wie Einem, der in seiner Jugend sehr viel kleines Silber- und Kupfer-Geld hat, das er während dem Lauf seines Lebens immer bedeutender einwechselt, so daß er zuletzt seinen Jugendbesitz in reinen Gold¬ stücken vor sich sieht."
Wir sprachen über die Figur des Baccalaureus. Ist in ihm, sagte ich, nicht eine gewisse Classe ideeller Phi¬ losophen gemeint? "Nein, sagte Goethe, es ist die An¬ maßlichkeit in ihm personificirt, die besonders der Ju¬ gend eigen ist, wovon wir in den ersten Jahren nach unserm Befreyungskriege so auffallende Beweise hatten. Auch glaubt jeder in seiner Jugend, daß die Welt eigentlich erst mit ihm angefangen, und daß Alles eigent¬ lich um seinetwillen da sey. Sodann hat es im Orient wirklich einen Mann gegeben, der jeden Morgen seine Leute um sich versammelte, und sie nicht eher an die Arbeit gehen ließ, als bis er der Sonne geheißen auf¬ zugehen. Aber hiebey war er so klug, diesen Befehl
„Da die Conception ſo alt iſt, ſagte Goethe, und ich ſeit funfzig Jahren daruͤber nachdenke, ſo hat ſich das innere Material ſo ſehr gehaͤuft, daß jetzt das Aus¬ ſcheiden und Ablehnen die ſchwere Operation iſt. Die Erfindung des ganzen zweyten Theiles iſt wirklich ſo alt wie ich ſage. Aber daß ich ihn erſt jetzt ſchreibe, nachdem ich uͤber die weltlichen Dinge ſo viel klarer geworden, mag der Sache zu Gute kommen. Es geht mir damit wie Einem, der in ſeiner Jugend ſehr viel kleines Silber- und Kupfer-Geld hat, das er waͤhrend dem Lauf ſeines Lebens immer bedeutender einwechſelt, ſo daß er zuletzt ſeinen Jugendbeſitz in reinen Gold¬ ſtuͤcken vor ſich ſieht.“
Wir ſprachen uͤber die Figur des Baccalaureus. Iſt in ihm, ſagte ich, nicht eine gewiſſe Claſſe ideeller Phi¬ loſophen gemeint? „Nein, ſagte Goethe, es iſt die An¬ maßlichkeit in ihm perſonificirt, die beſonders der Ju¬ gend eigen iſt, wovon wir in den erſten Jahren nach unſerm Befreyungskriege ſo auffallende Beweiſe hatten. Auch glaubt jeder in ſeiner Jugend, daß die Welt eigentlich erſt mit ihm angefangen, und daß Alles eigent¬ lich um ſeinetwillen da ſey. Sodann hat es im Orient wirklich einen Mann gegeben, der jeden Morgen ſeine Leute um ſich verſammelte, und ſie nicht eher an die Arbeit gehen ließ, als bis er der Sonne geheißen auf¬ zugehen. Aber hiebey war er ſo klug, dieſen Befehl
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„Da die Conception ſo alt iſt, ſagte Goethe, und
ich ſeit funfzig Jahren daruͤber nachdenke, ſo hat ſich
das innere Material ſo ſehr gehaͤuft, daß jetzt das Aus¬
ſcheiden und Ablehnen die ſchwere Operation iſt. Die
Erfindung des ganzen zweyten Theiles iſt wirklich ſo
alt wie ich ſage. Aber daß ich ihn erſt jetzt ſchreibe,
nachdem ich uͤber die weltlichen Dinge ſo viel klarer
geworden, mag der Sache zu Gute kommen. Es geht
mir damit wie Einem, der in ſeiner Jugend ſehr viel
kleines Silber- und Kupfer-Geld hat, das er waͤhrend
dem Lauf ſeines Lebens immer bedeutender einwechſelt,
ſo daß er zuletzt ſeinen Jugendbeſitz in reinen Gold¬
ſtuͤcken vor ſich ſieht.“
Wir ſprachen uͤber die Figur des Baccalaureus. Iſt
in ihm, ſagte ich, nicht eine gewiſſe Claſſe ideeller Phi¬
loſophen gemeint? „Nein, ſagte Goethe, es iſt die An¬
maßlichkeit in ihm perſonificirt, die beſonders der Ju¬
gend eigen iſt, wovon wir in den erſten Jahren nach
unſerm Befreyungskriege ſo auffallende Beweiſe hatten.
Auch glaubt jeder in ſeiner Jugend, daß die Welt
eigentlich erſt mit ihm angefangen, und daß Alles eigent¬
lich um ſeinetwillen da ſey. Sodann hat es im Orient
wirklich einen Mann gegeben, der jeden Morgen ſeine
Leute um ſich verſammelte, und ſie nicht eher an die
Arbeit gehen ließ, als bis er der Sonne geheißen auf¬
zugehen. Aber hiebey war er ſo klug, dieſen Befehl
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/162>, abgerufen am 27.11.2024.
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