was in solchen Fällen der moralische Wille vermag! Er durchdringt gleichsam den Körper und setzt ihn in einen activen Zustand, der alle schädlichen Einflüsse zu¬ rückschlägt. Die Furcht dagegen ist ein Zustand träger Schwäche und Empfänglichkeit, wo es jedem Feinde leicht wird, von uns Besitz zu nehmen. Das kannte Napoleon zu gut, und er wußte, daß er nichts wagte, seiner Armee ein imposantes Beyspiel zu geben."
"Aber, fuhr Goethe sehr heiter scherzend fort, habt Respect! Napoleon hatte in seiner Feldbibliothek was für ein Buch? -- meinen Werther!" --
Daß er ihn gut studirt gehabt, sagte ich, sieht man bey seinem Lever in Erfurt.
"Er hatte ihn studirt wie ein Criminalrichter seine Acten, sagte Goethe, und in diesem Sinne sprach er auch mit mir darüber."
"Es findet sich in dem Werke des Herrn Bourrienne eine Liste der Bücher, die Napoleon in Egypten bey sich geführt, worunter denn auch der Werther steht. Das Merkwürdige an dieser Liste aber ist, wie die Bücher unter verschiedenen Rubriken classificirt werden. Unter der Aufschrift Politique z. B. finden wir aufge¬ führt: Le vieux testament, le nouveau testament, le coran, woraus man denn sieht, aus welchem Gesichtspunct Napoleon die religiösen Dinge angesehen."
Goethe erzählte uns noch manches Interessante aus dem Buche, das ihn beschäftigte. Unter andern auch
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was in ſolchen Faͤllen der moraliſche Wille vermag! Er durchdringt gleichſam den Koͤrper und ſetzt ihn in einen activen Zuſtand, der alle ſchaͤdlichen Einfluͤſſe zu¬ ruͤckſchlaͤgt. Die Furcht dagegen iſt ein Zuſtand traͤger Schwaͤche und Empfaͤnglichkeit, wo es jedem Feinde leicht wird, von uns Beſitz zu nehmen. Das kannte Napoleon zu gut, und er wußte, daß er nichts wagte, ſeiner Armee ein impoſantes Beyſpiel zu geben.“
„Aber, fuhr Goethe ſehr heiter ſcherzend fort, habt Reſpect! Napoleon hatte in ſeiner Feldbibliothek was fuͤr ein Buch? — meinen Werther!“ —
Daß er ihn gut ſtudirt gehabt, ſagte ich, ſieht man bey ſeinem Lever in Erfurt.
„Er hatte ihn ſtudirt wie ein Criminalrichter ſeine Acten, ſagte Goethe, und in dieſem Sinne ſprach er auch mit mir daruͤber.“
„Es findet ſich in dem Werke des Herrn Bourrienne eine Liſte der Buͤcher, die Napoleon in Egypten bey ſich gefuͤhrt, worunter denn auch der Werther ſteht. Das Merkwuͤrdige an dieſer Liſte aber iſt, wie die Buͤcher unter verſchiedenen Rubriken claſſificirt werden. Unter der Aufſchrift Politique z. B. finden wir aufge¬ fuͤhrt: Le vieux testament, le nouveau testament, le coran, woraus man denn ſieht, aus welchem Geſichtspunct Napoleon die religioͤſen Dinge angeſehen.“
Goethe erzaͤhlte uns noch manches Intereſſante aus dem Buche, das ihn beſchaͤftigte. Unter andern auch
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was in ſolchen Faͤllen der moraliſche Wille vermag!
Er durchdringt gleichſam den Koͤrper und ſetzt ihn in
einen activen Zuſtand, der alle ſchaͤdlichen Einfluͤſſe zu¬
ruͤckſchlaͤgt. Die Furcht dagegen iſt ein Zuſtand traͤger
Schwaͤche und Empfaͤnglichkeit, wo es jedem Feinde
leicht wird, von uns Beſitz zu nehmen. Das kannte
Napoleon zu gut, und er wußte, daß er nichts wagte,
ſeiner Armee ein impoſantes Beyſpiel zu geben.“
„Aber, fuhr Goethe ſehr heiter ſcherzend fort, habt
Reſpect! Napoleon hatte in ſeiner Feldbibliothek was
fuͤr ein Buch? — meinen Werther!“ —
Daß er ihn gut ſtudirt gehabt, ſagte ich, ſieht man
bey ſeinem Lever in Erfurt.
„Er hatte ihn ſtudirt wie ein Criminalrichter ſeine
Acten, ſagte Goethe, und in dieſem Sinne ſprach er
auch mit mir daruͤber.“
„Es findet ſich in dem Werke des Herrn Bourrienne
eine Liſte der Buͤcher, die Napoleon in Egypten bey
ſich gefuͤhrt, worunter denn auch der Werther ſteht.
Das Merkwuͤrdige an dieſer Liſte aber iſt, wie die
Buͤcher unter verſchiedenen Rubriken claſſificirt werden.
Unter der Aufſchrift Politique z. B. finden wir aufge¬
fuͤhrt: Le vieux testament, le nouveau testament, le coran,
woraus man denn ſieht, aus welchem Geſichtspunct
Napoleon die religioͤſen Dinge angeſehen.“
Goethe erzaͤhlte uns noch manches Intereſſante aus
dem Buche, das ihn beſchaͤftigte. Unter andern auch
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/125>, abgerufen am 05.07.2024.
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