Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Goethe schickte zu Facius, um einen Abdruck holen zu
lassen.

Wir saßen noch eine Weile am Tisch, indem wir
zu gutem Biscuit einige Gläser alten Rheinwein tran¬
ken. Goethe summte Undeutliches vor sich hin. Mir
kam das Gedicht von gestern wieder in den Kopf; ich
recitirte:

Du hast mir mein Geräth verstellt und verschoben;
Ich such', und bin wie blind und irre geworden. etc.

Ich kann das Gedicht nicht wieder los werden, sagte
ich, es ist durchaus eigenartig, und drückt die Unord¬
nung so gut aus, die durch die Liebe in unser Leben
gebracht wird. "Es bringt uns einen düsteren Zustand
vor Augen," sagte Goethe. Es macht mir den Ein¬
druck eines Bildes, sagte ich, eines niederländischen.
"Es hat so etwas von Good man und good wife," sagte
Goethe. Sie nehmen mir das Wort von der Zunge,
sagte ich, denn ich habe schon fortwährend an jenes
Schottische denken müssen, und das Bild von Ostade
war mir vor Augen. "Aber wunderlich ist es, sagte
Goethe, daß sich beyde Gedichte nicht malen lassen; sie
geben wohl den Eindruck eines Bildes, eine ähnliche
Stimmung, aber gemalt, wären sie nichts." Es sind
dieses schöne Beyspiele, sagte ich, wo die Poesie der
Malerey so nahe als möglich tritt, ohne aus ihrer
eigentlichen Sphäre zu gehen. Solche Gedichte sind
mir die liebsten, indem sie Anschauung und Empfindung

Goethe ſchickte zu Facius, um einen Abdruck holen zu
laſſen.

Wir ſaßen noch eine Weile am Tiſch, indem wir
zu gutem Biscuit einige Glaͤſer alten Rheinwein tran¬
ken. Goethe ſummte Undeutliches vor ſich hin. Mir
kam das Gedicht von geſtern wieder in den Kopf; ich
recitirte:

Du haſt mir mein Geraͤth verſtellt und verſchoben;
Ich ſuch', und bin wie blind und irre geworden. ꝛc.

Ich kann das Gedicht nicht wieder los werden, ſagte
ich, es iſt durchaus eigenartig, und druͤckt die Unord¬
nung ſo gut aus, die durch die Liebe in unſer Leben
gebracht wird. „Es bringt uns einen duͤſteren Zuſtand
vor Augen,“ ſagte Goethe. Es macht mir den Ein¬
druck eines Bildes, ſagte ich, eines niederlaͤndiſchen.
„Es hat ſo etwas von Good man und good wife,“ ſagte
Goethe. Sie nehmen mir das Wort von der Zunge,
ſagte ich, denn ich habe ſchon fortwaͤhrend an jenes
Schottiſche denken muͤſſen, und das Bild von Oſtade
war mir vor Augen. „Aber wunderlich iſt es, ſagte
Goethe, daß ſich beyde Gedichte nicht malen laſſen; ſie
geben wohl den Eindruck eines Bildes, eine aͤhnliche
Stimmung, aber gemalt, waͤren ſie nichts.“ Es ſind
dieſes ſchoͤne Beyſpiele, ſagte ich, wo die Poeſie der
Malerey ſo nahe als moͤglich tritt, ohne aus ihrer
eigentlichen Sphaͤre zu gehen. Solche Gedichte ſind
mir die liebſten, indem ſie Anſchauung und Empfindung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0117" n="107"/>
Goethe &#x017F;chickte zu Facius, um einen Abdruck holen zu<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Wir &#x017F;aßen noch eine Weile am Ti&#x017F;ch, indem wir<lb/>
zu gutem Biscuit einige Gla&#x0364;&#x017F;er alten Rheinwein tran¬<lb/>
ken. Goethe &#x017F;ummte Undeutliches vor &#x017F;ich hin. Mir<lb/>
kam das Gedicht von ge&#x017F;tern wieder in den Kopf; ich<lb/>
recitirte:</p><lb/>
          <lg type="poem">
            <l>Du ha&#x017F;t mir mein Gera&#x0364;th ver&#x017F;tellt und ver&#x017F;choben;</l><lb/>
            <l>Ich &#x017F;uch', und bin wie blind und irre geworden. &#xA75B;c.</l><lb/>
          </lg>
          <p>Ich kann das Gedicht nicht wieder los werden, &#x017F;agte<lb/>
ich, es i&#x017F;t durchaus eigenartig, und dru&#x0364;ckt die Unord¬<lb/>
nung &#x017F;o gut aus, die durch die Liebe in un&#x017F;er Leben<lb/>
gebracht wird. &#x201E;Es bringt uns einen du&#x0364;&#x017F;teren Zu&#x017F;tand<lb/>
vor Augen,&#x201C; &#x017F;agte Goethe. Es macht mir den Ein¬<lb/>
druck eines Bildes, &#x017F;agte ich, eines niederla&#x0364;ndi&#x017F;chen.<lb/>
&#x201E;Es hat &#x017F;o etwas von <hi rendition="#aq">Good man</hi> und <hi rendition="#aq">good wife</hi>,&#x201C; &#x017F;agte<lb/>
Goethe. Sie nehmen mir das Wort von der Zunge,<lb/>
&#x017F;agte ich, denn ich habe &#x017F;chon fortwa&#x0364;hrend an jenes<lb/>
Schotti&#x017F;che denken mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, und das Bild von <hi rendition="#g">O&#x017F;tade</hi><lb/>
war mir vor Augen. &#x201E;Aber wunderlich i&#x017F;t es, &#x017F;agte<lb/>
Goethe, daß &#x017F;ich beyde Gedichte nicht malen la&#x017F;&#x017F;en; &#x017F;ie<lb/>
geben wohl den Eindruck eines Bildes, eine a&#x0364;hnliche<lb/>
Stimmung, aber gemalt, wa&#x0364;ren &#x017F;ie nichts.&#x201C; Es &#x017F;ind<lb/>
die&#x017F;es &#x017F;cho&#x0364;ne Bey&#x017F;piele, &#x017F;agte ich, wo die Poe&#x017F;ie der<lb/>
Malerey &#x017F;o nahe als mo&#x0364;glich tritt, ohne aus ihrer<lb/>
eigentlichen Spha&#x0364;re zu gehen. Solche Gedichte &#x017F;ind<lb/>
mir die lieb&#x017F;ten, indem &#x017F;ie An&#x017F;chauung und Empfindung<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0117] Goethe ſchickte zu Facius, um einen Abdruck holen zu laſſen. Wir ſaßen noch eine Weile am Tiſch, indem wir zu gutem Biscuit einige Glaͤſer alten Rheinwein tran¬ ken. Goethe ſummte Undeutliches vor ſich hin. Mir kam das Gedicht von geſtern wieder in den Kopf; ich recitirte: Du haſt mir mein Geraͤth verſtellt und verſchoben; Ich ſuch', und bin wie blind und irre geworden. ꝛc. Ich kann das Gedicht nicht wieder los werden, ſagte ich, es iſt durchaus eigenartig, und druͤckt die Unord¬ nung ſo gut aus, die durch die Liebe in unſer Leben gebracht wird. „Es bringt uns einen duͤſteren Zuſtand vor Augen,“ ſagte Goethe. Es macht mir den Ein¬ druck eines Bildes, ſagte ich, eines niederlaͤndiſchen. „Es hat ſo etwas von Good man und good wife,“ ſagte Goethe. Sie nehmen mir das Wort von der Zunge, ſagte ich, denn ich habe ſchon fortwaͤhrend an jenes Schottiſche denken muͤſſen, und das Bild von Oſtade war mir vor Augen. „Aber wunderlich iſt es, ſagte Goethe, daß ſich beyde Gedichte nicht malen laſſen; ſie geben wohl den Eindruck eines Bildes, eine aͤhnliche Stimmung, aber gemalt, waͤren ſie nichts.“ Es ſind dieſes ſchoͤne Beyſpiele, ſagte ich, wo die Poeſie der Malerey ſo nahe als moͤglich tritt, ohne aus ihrer eigentlichen Sphaͤre zu gehen. Solche Gedichte ſind mir die liebſten, indem ſie Anſchauung und Empfindung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/117
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/117>, abgerufen am 27.04.2024.