Titel gehöre gar nicht zur Sache. "Er gehört auch nicht dazu, sagte Goethe; die alten Gedichte hatten gar keine Titel, es ist dieß ein Gebrauch der Neuern, von denen auch die Gedichte der Alten erst in einer späteren Zeit Titel erhalten haben. Doch dieser Gebrauch ist von der Nothwendigkeit herbeygeführt, bey einer aus¬ gebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und von einander zu unterscheiden."
"Hier, sagte Goethe, haben Sie etwas Neues; lesen Sie." Mit diesen Worten reichte er mir eine Über¬ setzung eines serbischen Gedichtes von Herrn Gerhard. Ich las mit großem Vergnügen, denn das Gedicht war sehr schön und die Übersetzung so einfach und klar, daß man im Anschauen des Gegenstandes nie gestört wurde. Das Gedicht führte den Titel: die Gefängnißschlüssel. Ich sage hier nichts von dem Gang der Handlung; der Schluß indeß kam mir abgerissen und ein wenig unbefriedigend vor.
"Das ist, sagte Goethe, eben das Schöne; denn dadurch läßt es einen Stachel im Herzen zurück und die Phantasie des Lesers ist angeregt, sich selbst alle Möglichkeiten auszubilden, die nun folgen können. Der Schluß hinterläßt den Stoff zu einem ganzen Trauer¬ spiele, allein er ist von der Art, wie schon Vieles da¬ gewesen ist. Dagegen das im Gedicht Dargestellte ist das eigentlich Neue und Schöne, und der Dichter ver¬ fuhr sehr weise, daß er nur dieses ausbildete und das
Titel gehoͤre gar nicht zur Sache. „Er gehoͤrt auch nicht dazu, ſagte Goethe; die alten Gedichte hatten gar keine Titel, es iſt dieß ein Gebrauch der Neuern, von denen auch die Gedichte der Alten erſt in einer ſpaͤteren Zeit Titel erhalten haben. Doch dieſer Gebrauch iſt von der Nothwendigkeit herbeygefuͤhrt, bey einer aus¬ gebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und von einander zu unterſcheiden.“
„Hier, ſagte Goethe, haben Sie etwas Neues; leſen Sie.“ Mit dieſen Worten reichte er mir eine Über¬ ſetzung eines ſerbiſchen Gedichtes von Herrn Gerhard. Ich las mit großem Vergnuͤgen, denn das Gedicht war ſehr ſchoͤn und die Überſetzung ſo einfach und klar, daß man im Anſchauen des Gegenſtandes nie geſtoͤrt wurde. Das Gedicht fuͤhrte den Titel: die Gefaͤngnißſchluͤſſel. Ich ſage hier nichts von dem Gang der Handlung; der Schluß indeß kam mir abgeriſſen und ein wenig unbefriedigend vor.
„Das iſt, ſagte Goethe, eben das Schoͤne; denn dadurch laͤßt es einen Stachel im Herzen zuruͤck und die Phantaſie des Leſers iſt angeregt, ſich ſelbſt alle Moͤglichkeiten auszubilden, die nun folgen koͤnnen. Der Schluß hinterlaͤßt den Stoff zu einem ganzen Trauer¬ ſpiele, allein er iſt von der Art, wie ſchon Vieles da¬ geweſen iſt. Dagegen das im Gedicht Dargeſtellte iſt das eigentlich Neue und Schoͤne, und der Dichter ver¬ fuhr ſehr weiſe, daß er nur dieſes ausbildete und das
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Titel gehoͤre gar nicht zur Sache. „Er gehoͤrt auch
nicht dazu, ſagte Goethe; die alten Gedichte hatten gar
keine Titel, es iſt dieß ein Gebrauch der Neuern, von
denen auch die Gedichte der Alten erſt in einer ſpaͤteren
Zeit Titel erhalten haben. Doch dieſer Gebrauch iſt
von der Nothwendigkeit herbeygefuͤhrt, bey einer aus¬
gebreiteten Literatur die Sachen zu nennen und von
einander zu unterſcheiden.“
„Hier, ſagte Goethe, haben Sie etwas Neues; leſen
Sie.“ Mit dieſen Worten reichte er mir eine Über¬
ſetzung eines ſerbiſchen Gedichtes von Herrn Gerhard.
Ich las mit großem Vergnuͤgen, denn das Gedicht war
ſehr ſchoͤn und die Überſetzung ſo einfach und klar, daß
man im Anſchauen des Gegenſtandes nie geſtoͤrt wurde.
Das Gedicht fuͤhrte den Titel: die Gefaͤngnißſchluͤſſel.
Ich ſage hier nichts von dem Gang der Handlung;
der Schluß indeß kam mir abgeriſſen und ein wenig
unbefriedigend vor.
„Das iſt, ſagte Goethe, eben das Schoͤne; denn
dadurch laͤßt es einen Stachel im Herzen zuruͤck und
die Phantaſie des Leſers iſt angeregt, ſich ſelbſt alle
Moͤglichkeiten auszubilden, die nun folgen koͤnnen. Der
Schluß hinterlaͤßt den Stoff zu einem ganzen Trauer¬
ſpiele, allein er iſt von der Art, wie ſchon Vieles da¬
geweſen iſt. Dagegen das im Gedicht Dargeſtellte iſt
das eigentlich Neue und Schoͤne, und der Dichter ver¬
fuhr ſehr weiſe, daß er nur dieſes ausbildete und das
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/340>, abgerufen am 24.11.2024.
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