Exposition, so würde diese Wirkung gänzlich geschwächt, ja vernichtet werden.
"Sie haben Recht, sagte Goethe, ich muß es las¬ sen, wie es ist. Ohne Frage, Sie haben ganz Recht. Es muß auch beym ersten Entwurf in mir gelegen ha¬ ben, die Leute nicht früher zu bringen, eben weil ich sie ausgelassen. Diese intendirte Änderung war eine Forderung des Verstandes und ich wäre dadurch bald zu einem Fehler verleitet worden. Es ist aber dieses ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen."
Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben solle; wir thaten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere gut für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. "Wissen Sie was, sagte Goethe, wir wollen es die Novelle nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit. Dieß ist der eigentliche Begriff, und so Vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Er¬ zählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ur¬ sprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den Wahlverwandtschaften vor."
Wenn man es recht bedenkt, sagte ich, so entsteht doch ein Gedicht immer ohne Titel und ist ohne Titel das, was es ist, so daß man also glauben sollte, der
Expoſition, ſo wuͤrde dieſe Wirkung gaͤnzlich geſchwaͤcht, ja vernichtet werden.
„Sie haben Recht, ſagte Goethe, ich muß es laſ¬ ſen, wie es iſt. Ohne Frage, Sie haben ganz Recht. Es muß auch beym erſten Entwurf in mir gelegen ha¬ ben, die Leute nicht fruͤher zu bringen, eben weil ich ſie ausgelaſſen. Dieſe intendirte Änderung war eine Forderung des Verſtandes und ich waͤre dadurch bald zu einem Fehler verleitet worden. Es iſt aber dieſes ein merkwuͤrdiger aͤſthetiſcher Fall, daß man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.“
Es kam ſodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben ſolle; wir thaten manche Vorſchlaͤge, einige waren gut fuͤr den Anfang, andere gut fuͤr das Ende, doch fand ſich keiner, der fuͤr das Ganze paſſend und alſo der rechte geweſen waͤre. „Wiſſen Sie was, ſagte Goethe, wir wollen es die Novelle nennen; denn was iſt eine Novelle anders als eine ſich ereignete unerhoͤrte Begebenheit. Dieß iſt der eigentliche Begriff, und ſo Vieles, was in Deutſchland unter dem Titel Novelle geht, iſt gar keine Novelle, ſondern bloß Er¬ zaͤhlung oder was Sie ſonſt wollen. In jenem ur¬ ſpruͤnglichen Sinne einer unerhoͤrten Begebenheit kommt auch die Novelle in den Wahlverwandtſchaften vor.“
Wenn man es recht bedenkt, ſagte ich, ſo entſteht doch ein Gedicht immer ohne Titel und iſt ohne Titel das, was es iſt, ſo daß man alſo glauben ſollte, der
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Expoſition, ſo wuͤrde dieſe Wirkung gaͤnzlich geſchwaͤcht,
ja vernichtet werden.
„Sie haben Recht, ſagte Goethe, ich muß es laſ¬
ſen, wie es iſt. Ohne Frage, Sie haben ganz Recht.
Es muß auch beym erſten Entwurf in mir gelegen ha¬
ben, die Leute nicht fruͤher zu bringen, eben weil ich
ſie ausgelaſſen. Dieſe intendirte Änderung war eine
Forderung des Verſtandes und ich waͤre dadurch bald
zu einem Fehler verleitet worden. Es iſt aber dieſes
ein merkwuͤrdiger aͤſthetiſcher Fall, daß man von einer
Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.“
Es kam ſodann zur Sprache, welchen Titel man
der Novelle geben ſolle; wir thaten manche Vorſchlaͤge,
einige waren gut fuͤr den Anfang, andere gut fuͤr das
Ende, doch fand ſich keiner, der fuͤr das Ganze paſſend
und alſo der rechte geweſen waͤre. „Wiſſen Sie was,
ſagte Goethe, wir wollen es die Novelle nennen;
denn was iſt eine Novelle anders als eine ſich ereignete
unerhoͤrte Begebenheit. Dieß iſt der eigentliche Begriff,
und ſo Vieles, was in Deutſchland unter dem Titel
Novelle geht, iſt gar keine Novelle, ſondern bloß Er¬
zaͤhlung oder was Sie ſonſt wollen. In jenem ur¬
ſpruͤnglichen Sinne einer unerhoͤrten Begebenheit kommt
auch die Novelle in den Wahlverwandtſchaften vor.“
Wenn man es recht bedenkt, ſagte ich, ſo entſteht
doch ein Gedicht immer ohne Titel und iſt ohne Titel
das, was es iſt, ſo daß man alſo glauben ſollte, der
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/339>, abgerufen am 24.11.2024.
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