Mit diesen Worten reichte er mir einige radirte Blätter des berühmten Thiermalers Roos; lauter Schafe, und diese Thiere in allen ihren Lagen und Zu¬ ständen. Das Einfältige der Physiognomieen, das Hä߬ liche, Struppige der Haare, alles mit der äußersten Wahrheit, als wäre es die Natur selber.
"Mir wird immer bange, sagte Goethe, wenn ich diese Thiere ansehe. Das Beschränkte, Dumpfe, Träu¬ mende, Gähnende ihres Zustandes zieht mich in das Mitgefühl desselben hinein; man fürchtet zum Thier zu werden, und möchte fast glauben, der Künstler sey sel¬ ber eins gewesen. Auf jeden Fall bleibt es im hohen Grade erstaunenswürdig, wie er sich in die Seelen dieser Geschöpfe hat hineindenken und hineinempfinden können, um den innern Character in der äußern Hülle mit sol¬ cher Wahrheit durchblicken zu lassen. Man sieht aber, was ein großes Talent machen kann, wenn es bey Gegenständen bleibt, die seiner Natur analog sind."
Hat denn dieser Künstler, sagte ich, nicht auch Hunde, Katzen und Raubthiere mit einer ähnlichen Wahrheit gebildet? ja hat er, bey der großen Gabe sich in einen fremden Zustand hineinzufühlen, nicht auch menschliche Charactere mit einer gleichen Treue behandelt?
"Nein, sagte Goethe, alles das lag außer seinem Kreise; dagegen die frommen, grasfressenden Thiere, wie Schafe, Ziegen, Kühe und dergleichen, ward er nicht
Mit dieſen Worten reichte er mir einige radirte Blaͤtter des beruͤhmten Thiermalers Roos; lauter Schafe, und dieſe Thiere in allen ihren Lagen und Zu¬ ſtaͤnden. Das Einfaͤltige der Phyſiognomieen, das Haͤ߬ liche, Struppige der Haare, alles mit der aͤußerſten Wahrheit, als waͤre es die Natur ſelber.
„Mir wird immer bange, ſagte Goethe, wenn ich dieſe Thiere anſehe. Das Beſchraͤnkte, Dumpfe, Traͤu¬ mende, Gaͤhnende ihres Zuſtandes zieht mich in das Mitgefuͤhl deſſelben hinein; man fuͤrchtet zum Thier zu werden, und moͤchte faſt glauben, der Kuͤnſtler ſey ſel¬ ber eins geweſen. Auf jeden Fall bleibt es im hohen Grade erſtaunenswuͤrdig, wie er ſich in die Seelen dieſer Geſchoͤpfe hat hineindenken und hineinempfinden koͤnnen, um den innern Character in der aͤußern Huͤlle mit ſol¬ cher Wahrheit durchblicken zu laſſen. Man ſieht aber, was ein großes Talent machen kann, wenn es bey Gegenſtaͤnden bleibt, die ſeiner Natur analog ſind.“
Hat denn dieſer Kuͤnſtler, ſagte ich, nicht auch Hunde, Katzen und Raubthiere mit einer aͤhnlichen Wahrheit gebildet? ja hat er, bey der großen Gabe ſich in einen fremden Zuſtand hineinzufuͤhlen, nicht auch menſchliche Charactere mit einer gleichen Treue behandelt?
„Nein, ſagte Goethe, alles das lag außer ſeinem Kreiſe; dagegen die frommen, grasfreſſenden Thiere, wie Schafe, Ziegen, Kuͤhe und dergleichen, ward er nicht
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Mit dieſen Worten reichte er mir einige radirte
Blaͤtter des beruͤhmten Thiermalers Roos; lauter
Schafe, und dieſe Thiere in allen ihren Lagen und Zu¬
ſtaͤnden. Das Einfaͤltige der Phyſiognomieen, das Haͤ߬
liche, Struppige der Haare, alles mit der aͤußerſten
Wahrheit, als waͤre es die Natur ſelber.
„Mir wird immer bange, ſagte Goethe, wenn ich
dieſe Thiere anſehe. Das Beſchraͤnkte, Dumpfe, Traͤu¬
mende, Gaͤhnende ihres Zuſtandes zieht mich in das
Mitgefuͤhl deſſelben hinein; man fuͤrchtet zum Thier zu
werden, und moͤchte faſt glauben, der Kuͤnſtler ſey ſel¬
ber eins geweſen. Auf jeden Fall bleibt es im hohen
Grade erſtaunenswuͤrdig, wie er ſich in die Seelen dieſer
Geſchoͤpfe hat hineindenken und hineinempfinden koͤnnen,
um den innern Character in der aͤußern Huͤlle mit ſol¬
cher Wahrheit durchblicken zu laſſen. Man ſieht aber,
was ein großes Talent machen kann, wenn es bey
Gegenſtaͤnden bleibt, die ſeiner Natur analog ſind.“
Hat denn dieſer Kuͤnſtler, ſagte ich, nicht auch
Hunde, Katzen und Raubthiere mit einer aͤhnlichen
Wahrheit gebildet? ja hat er, bey der großen Gabe
ſich in einen fremden Zuſtand hineinzufuͤhlen, nicht
auch menſchliche Charactere mit einer gleichen Treue
behandelt?
„Nein, ſagte Goethe, alles das lag außer ſeinem
Kreiſe; dagegen die frommen, grasfreſſenden Thiere, wie
Schafe, Ziegen, Kuͤhe und dergleichen, ward er nicht
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/145>, abgerufen am 28.11.2024.
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