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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864.

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uns ernstlich gefragt zu haben: ,Worin fehlte ich? Was
habe ich gethan; was unterlassen?'

"Diese tägliche Selbstprüfung sollte Niemand ver-
gessen, dem an der Veredlung seiner Seele wahrhaft ge-
legen ist.

"Du kennst den Meister, darum brauche ich Dir nicht
zu sagen, daß sein bloßer Anblick, sein bloßes Wort ge-
nügt, den Fehlenden auf den rechten Weg zu leiten, den
Ungestümen zu sänftigen und den Schlaffen zum Aufraffen
seiner Kräfte zu ermuntern. Laute Ausbrüche der Lust
und des Schmerzes sind uns, wie Du weißt, verboten,
und Pythagoras geht uns auch hierin mit dem schönsten
Beispiele voran, denn sein Gelächter ist Lächeln, sein Wei-
nen ein wehmüthiger Blick. -- Er, der Leidenschaftslose,
hält die Freundschaft für höher, als die Liebe, denn diese
trübt die Harmonie unserer Seele durch Begier und Er-
regung, während jene dadurch, daß sich in ihr zwei Seelen
schön und ruhig gleichsam zu einer verschmelzen, die Har-
monie unseres Wesens erhöht.

"Er nennt die Freundschaft ,Gleichheit', den Freund
,unser anderes Jch', und befiehlt seinen Jüngern vor allen
Dingen unwandelbare, opferwillige Seelenbündnisse. Wie
glücklich bin ich zu preisen! Jst es mir doch gelungen, die
Liebe des Meisters selbst zu erwerben, hat er mich doch
vor Kurzem in die Zahl der dreihundert Esoteriker 164),
denen er keine seiner Lehren vorenthält, aufgenommen!

"Ruhigen, friedensreichen Herzens erwarte ich jetzt
meine letzte Stunde, die ja nichts anderes ist, als die erste
eines besseren Lebens. Jn einem mit Oliven- und Pappel-
blättern geschmückten Sarge wird man mich zu Grabe
tragen, und wahre Freunde werden den Dahingegangenen
nicht beweinen, sondern glücklich preisen.

uns ernſtlich gefragt zu haben: ‚Worin fehlte ich? Was
habe ich gethan; was unterlaſſen?‘

„Dieſe tägliche Selbſtprüfung ſollte Niemand ver-
geſſen, dem an der Veredlung ſeiner Seele wahrhaft ge-
legen iſt.

„Du kennſt den Meiſter, darum brauche ich Dir nicht
zu ſagen, daß ſein bloßer Anblick, ſein bloßes Wort ge-
nügt, den Fehlenden auf den rechten Weg zu leiten, den
Ungeſtümen zu ſänftigen und den Schlaffen zum Aufraffen
ſeiner Kräfte zu ermuntern. Laute Ausbrüche der Luſt
und des Schmerzes ſind uns, wie Du weißt, verboten,
und Pythagoras geht uns auch hierin mit dem ſchönſten
Beiſpiele voran, denn ſein Gelächter iſt Lächeln, ſein Wei-
nen ein wehmüthiger Blick. — Er, der Leidenſchaftsloſe,
hält die Freundſchaft für höher, als die Liebe, denn dieſe
trübt die Harmonie unſerer Seele durch Begier und Er-
regung, während jene dadurch, daß ſich in ihr zwei Seelen
ſchön und ruhig gleichſam zu einer verſchmelzen, die Har-
monie unſeres Weſens erhöht.

„Er nennt die Freundſchaft ‚Gleichheit‘, den Freund
‚unſer anderes Jch‘, und befiehlt ſeinen Jüngern vor allen
Dingen unwandelbare, opferwillige Seelenbündniſſe. Wie
glücklich bin ich zu preiſen! Jſt es mir doch gelungen, die
Liebe des Meiſters ſelbſt zu erwerben, hat er mich doch
vor Kurzem in die Zahl der dreihundert Eſoteriker 164),
denen er keine ſeiner Lehren vorenthält, aufgenommen!

„Ruhigen, friedensreichen Herzens erwarte ich jetzt
meine letzte Stunde, die ja nichts anderes iſt, als die erſte
eines beſſeren Lebens. Jn einem mit Oliven- und Pappel-
blättern geſchmückten Sarge wird man mich zu Grabe
tragen, und wahre Freunde werden den Dahingegangenen
nicht beweinen, ſondern glücklich preiſen.

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[244/0254] uns ernſtlich gefragt zu haben: ‚Worin fehlte ich? Was habe ich gethan; was unterlaſſen?‘ „Dieſe tägliche Selbſtprüfung ſollte Niemand ver- geſſen, dem an der Veredlung ſeiner Seele wahrhaft ge- legen iſt. „Du kennſt den Meiſter, darum brauche ich Dir nicht zu ſagen, daß ſein bloßer Anblick, ſein bloßes Wort ge- nügt, den Fehlenden auf den rechten Weg zu leiten, den Ungeſtümen zu ſänftigen und den Schlaffen zum Aufraffen ſeiner Kräfte zu ermuntern. Laute Ausbrüche der Luſt und des Schmerzes ſind uns, wie Du weißt, verboten, und Pythagoras geht uns auch hierin mit dem ſchönſten Beiſpiele voran, denn ſein Gelächter iſt Lächeln, ſein Wei- nen ein wehmüthiger Blick. — Er, der Leidenſchaftsloſe, hält die Freundſchaft für höher, als die Liebe, denn dieſe trübt die Harmonie unſerer Seele durch Begier und Er- regung, während jene dadurch, daß ſich in ihr zwei Seelen ſchön und ruhig gleichſam zu einer verſchmelzen, die Har- monie unſeres Weſens erhöht. „Er nennt die Freundſchaft ‚Gleichheit‘, den Freund ‚unſer anderes Jch‘, und befiehlt ſeinen Jüngern vor allen Dingen unwandelbare, opferwillige Seelenbündniſſe. Wie glücklich bin ich zu preiſen! Jſt es mir doch gelungen, die Liebe des Meiſters ſelbſt zu erwerben, hat er mich doch vor Kurzem in die Zahl der dreihundert Eſoteriker 164), denen er keine ſeiner Lehren vorenthält, aufgenommen! „Ruhigen, friedensreichen Herzens erwarte ich jetzt meine letzte Stunde, die ja nichts anderes iſt, als die erſte eines beſſeren Lebens. Jn einem mit Oliven- und Pappel- blättern geſchmückten Sarge wird man mich zu Grabe tragen, und wahre Freunde werden den Dahingegangenen nicht beweinen, ſondern glücklich preiſen.

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter03_1864/254>, abgerufen am 20.05.2024.