sie fort; auf das Kind konnte sie, ohne dem Verschwun- denen auch nur das Geringste zu entziehen, die ganze Liebesfülle ihres Herzens übertragen; mit dem Kinde hatte ihr die Gottheit ein Lebensziel, ein Band geschenkt, welches sie wiederum mit der Welt, deren schätzbarer Theil seit ihres Gatten Verschwinden für sie verloren schien, vereinte. Manchmal dachte sie wohl, wenn sie in die blauen Augen des holden Wesens schaute, die denen seines Vaters so täuschend glichen: Warum ist sie doch kein Knabe? Der würde ihm von Tag zu Tag ähnlicher werden und endlich als ein zweiter Bartja, wenn es überhaupt einen solchen geben könnte, vor mir stehen!
Aber solche Gedanken pflegten nur von kurzer Dauer zu sein und damit zu enden, daß sie die Kleine mit dop- pelter Zärtlichkeit an ihr Herz drückte, daß sie sich un- dankbar und thöricht schalt.
Eines Tages hatte Atossa in gleichem Sinne ausge- rufen: "Schade, daß Parmys kein Knabe ist! Der würde seinem Vater ähnlich werden und Persien als ein zweiter Kyros regieren!" Sappho stimmte der Freundin, weh- müthig lächelnd, bei und bedeckte die Kleine mit Küssen; Kassandane aber sagte: "Erkenne auch darin die Güte der Götter, meine Tochter, daß sie Dir ein Mägdlein bescheer- ten. Wäre Parmys ein Knabe, so würde man Dir Dein Kind, sobald es das sechste Lebensjahr überschritten, fort- nehmen, um es mit den Söhnen der andern Achämeniden erziehen zu lassen, während Dir das Mädchen noch lange Zeit angehören wird."
Sappho erbebte in dem bloßen Gedanken, sich je von der Kleinen trennen zu müssen, drückte das blonde Locken- köpfchen fest an ihre Brust und hatte von nun an nichts mehr an ihrem kostbaren Schatz auszusetzen.
ſie fort; auf das Kind konnte ſie, ohne dem Verſchwun- denen auch nur das Geringſte zu entziehen, die ganze Liebesfülle ihres Herzens übertragen; mit dem Kinde hatte ihr die Gottheit ein Lebensziel, ein Band geſchenkt, welches ſie wiederum mit der Welt, deren ſchätzbarer Theil ſeit ihres Gatten Verſchwinden für ſie verloren ſchien, vereinte. Manchmal dachte ſie wohl, wenn ſie in die blauen Augen des holden Weſens ſchaute, die denen ſeines Vaters ſo täuſchend glichen: Warum iſt ſie doch kein Knabe? Der würde ihm von Tag zu Tag ähnlicher werden und endlich als ein zweiter Bartja, wenn es überhaupt einen ſolchen geben könnte, vor mir ſtehen!
Aber ſolche Gedanken pflegten nur von kurzer Dauer zu ſein und damit zu enden, daß ſie die Kleine mit dop- pelter Zärtlichkeit an ihr Herz drückte, daß ſie ſich un- dankbar und thöricht ſchalt.
Eines Tages hatte Atoſſa in gleichem Sinne ausge- rufen: „Schade, daß Parmys kein Knabe iſt! Der würde ſeinem Vater ähnlich werden und Perſien als ein zweiter Kyros regieren!“ Sappho ſtimmte der Freundin, weh- müthig lächelnd, bei und bedeckte die Kleine mit Küſſen; Kaſſandane aber ſagte: „Erkenne auch darin die Güte der Götter, meine Tochter, daß ſie Dir ein Mägdlein beſcheer- ten. Wäre Parmys ein Knabe, ſo würde man Dir Dein Kind, ſobald es das ſechste Lebensjahr überſchritten, fort- nehmen, um es mit den Söhnen der andern Achämeniden erziehen zu laſſen, während Dir das Mädchen noch lange Zeit angehören wird.“
Sappho erbebte in dem bloßen Gedanken, ſich je von der Kleinen trennen zu müſſen, drückte das blonde Locken- köpfchen feſt an ihre Bruſt und hatte von nun an nichts mehr an ihrem koſtbaren Schatz auszuſetzen.
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ſie fort; auf das Kind konnte ſie, ohne dem Verſchwun-
denen auch nur das Geringſte zu entziehen, die ganze
Liebesfülle ihres Herzens übertragen; mit dem Kinde hatte
ihr die Gottheit ein Lebensziel, ein Band geſchenkt, welches
ſie wiederum mit der Welt, deren ſchätzbarer Theil ſeit
ihres Gatten Verſchwinden für ſie verloren ſchien, vereinte.
Manchmal dachte ſie wohl, wenn ſie in die blauen Augen
des holden Weſens ſchaute, die denen ſeines Vaters ſo
täuſchend glichen: Warum iſt ſie doch kein Knabe? Der
würde ihm von Tag zu Tag ähnlicher werden und endlich
als ein zweiter Bartja, wenn es überhaupt einen ſolchen
geben könnte, vor mir ſtehen!
Aber ſolche Gedanken pflegten nur von kurzer Dauer
zu ſein und damit zu enden, daß ſie die Kleine mit dop-
pelter Zärtlichkeit an ihr Herz drückte, daß ſie ſich un-
dankbar und thöricht ſchalt.
Eines Tages hatte Atoſſa in gleichem Sinne ausge-
rufen: „Schade, daß Parmys kein Knabe iſt! Der würde
ſeinem Vater ähnlich werden und Perſien als ein zweiter
Kyros regieren!“ Sappho ſtimmte der Freundin, weh-
müthig lächelnd, bei und bedeckte die Kleine mit Küſſen;
Kaſſandane aber ſagte: „Erkenne auch darin die Güte der
Götter, meine Tochter, daß ſie Dir ein Mägdlein beſcheer-
ten. Wäre Parmys ein Knabe, ſo würde man Dir Dein
Kind, ſobald es das ſechste Lebensjahr überſchritten, fort-
nehmen, um es mit den Söhnen der andern Achämeniden
erziehen zu laſſen, während Dir das Mädchen noch lange
Zeit angehören wird.“
Sappho erbebte in dem bloßen Gedanken, ſich je von
der Kleinen trennen zu müſſen, drückte das blonde Locken-
köpfchen feſt an ihre Bruſt und hatte von nun an nichts
mehr an ihrem koſtbaren Schatz auszuſetzen.
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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter03_1864/238>, abgerufen am 17.07.2024.
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