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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864.

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Arm um den Hals ihres Gatten geschlungen und ihm
schmeichlerisch in's Ohr geflüstert hatte: "Erzähle doch der
Großmutter Alles und frage dieselbe, ob sie Dir Recht
gibt!" --

Ehe ihr Bartja antworten konnte, hatte sie seinen
Mund geküßt und war der würdevoll dahinschreitenden
Alten nachgeeilt.

Der Königssohn schaute ihr lächelnd nach und wurde
nicht müde, ihren schwebenden Gang und ihre herrliche
Gestalt schweigend zu bewundern. Endlich wandte er sich
wieder an die Greisin und fragte: "Findest Du nicht auch,
daß sie in der letzten Zeit gewachsen ist?"

"Es scheint so," antwortete Rhodopis. "Die Jung-
fräulichkeit breitet einen eignen Anmuthszauber über das
Weib; aber erst die Mutterschaft ist es, welche ihm die
rechte Ehrwürdigkeit verleiht. Diese erhebt das Haupt
der Frau. Wir wähnen, sie müsse körperlich gewachsen
sein, während sie sich nur durch das Bewußtsein, ihre Be-
stimmung erfüllt zu haben, innerlich erhoben fühlt!"

"Ja, ich glaube, daß sie glücklich ist," gab Bartja
der Greisin zurück. "Gestern waren wir zum ersten Male
verschiedener Ansicht. Als sie uns soeben verließ, bat sie
mich heimlich, Dir unsre Streitfrage vorzulegen, und ich
folge ihr gern, da ich Deine Weisheit und Lebensklugheit
ebenso hoch schätze, als ich ihre kindliche Unerfahrenheit
liebe."

Nun erzählte Bartja der Greisin den Verlauf jener
verhängnißvollen Bogenprobe und schloß mit den Worten:
"Krösus tadelte meine Unvorsichtigkeit; ich kenne aber
meinen Bruder und weiß, daß er zwar im Zorne zu jeder
Gewaltthat fähig ist und wohl im Stande gewesen wäre,
mir im Angesicht seiner Niederlage den Tod zu geben, daß

Arm um den Hals ihres Gatten geſchlungen und ihm
ſchmeichleriſch in’s Ohr geflüſtert hatte: „Erzähle doch der
Großmutter Alles und frage dieſelbe, ob ſie Dir Recht
gibt!“ —

Ehe ihr Bartja antworten konnte, hatte ſie ſeinen
Mund geküßt und war der würdevoll dahinſchreitenden
Alten nachgeeilt.

Der Königsſohn ſchaute ihr lächelnd nach und wurde
nicht müde, ihren ſchwebenden Gang und ihre herrliche
Geſtalt ſchweigend zu bewundern. Endlich wandte er ſich
wieder an die Greiſin und fragte: „Findeſt Du nicht auch,
daß ſie in der letzten Zeit gewachſen iſt?“

„Es ſcheint ſo,“ antwortete Rhodopis. „Die Jung-
fräulichkeit breitet einen eignen Anmuthszauber über das
Weib; aber erſt die Mutterſchaft iſt es, welche ihm die
rechte Ehrwürdigkeit verleiht. Dieſe erhebt das Haupt
der Frau. Wir wähnen, ſie müſſe körperlich gewachſen
ſein, während ſie ſich nur durch das Bewußtſein, ihre Be-
ſtimmung erfüllt zu haben, innerlich erhoben fühlt!“

„Ja, ich glaube, daß ſie glücklich iſt,“ gab Bartja
der Greiſin zurück. „Geſtern waren wir zum erſten Male
verſchiedener Anſicht. Als ſie uns ſoeben verließ, bat ſie
mich heimlich, Dir unſre Streitfrage vorzulegen, und ich
folge ihr gern, da ich Deine Weisheit und Lebensklugheit
ebenſo hoch ſchätze, als ich ihre kindliche Unerfahrenheit
liebe.“

Nun erzählte Bartja der Greiſin den Verlauf jener
verhängnißvollen Bogenprobe und ſchloß mit den Worten:
„Kröſus tadelte meine Unvorſichtigkeit; ich kenne aber
meinen Bruder und weiß, daß er zwar im Zorne zu jeder
Gewaltthat fähig iſt und wohl im Stande geweſen wäre,
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[208/0218] Arm um den Hals ihres Gatten geſchlungen und ihm ſchmeichleriſch in’s Ohr geflüſtert hatte: „Erzähle doch der Großmutter Alles und frage dieſelbe, ob ſie Dir Recht gibt!“ — Ehe ihr Bartja antworten konnte, hatte ſie ſeinen Mund geküßt und war der würdevoll dahinſchreitenden Alten nachgeeilt. Der Königsſohn ſchaute ihr lächelnd nach und wurde nicht müde, ihren ſchwebenden Gang und ihre herrliche Geſtalt ſchweigend zu bewundern. Endlich wandte er ſich wieder an die Greiſin und fragte: „Findeſt Du nicht auch, daß ſie in der letzten Zeit gewachſen iſt?“ „Es ſcheint ſo,“ antwortete Rhodopis. „Die Jung- fräulichkeit breitet einen eignen Anmuthszauber über das Weib; aber erſt die Mutterſchaft iſt es, welche ihm die rechte Ehrwürdigkeit verleiht. Dieſe erhebt das Haupt der Frau. Wir wähnen, ſie müſſe körperlich gewachſen ſein, während ſie ſich nur durch das Bewußtſein, ihre Be- ſtimmung erfüllt zu haben, innerlich erhoben fühlt!“ „Ja, ich glaube, daß ſie glücklich iſt,“ gab Bartja der Greiſin zurück. „Geſtern waren wir zum erſten Male verſchiedener Anſicht. Als ſie uns ſoeben verließ, bat ſie mich heimlich, Dir unſre Streitfrage vorzulegen, und ich folge ihr gern, da ich Deine Weisheit und Lebensklugheit ebenſo hoch ſchätze, als ich ihre kindliche Unerfahrenheit liebe.“ Nun erzählte Bartja der Greiſin den Verlauf jener verhängnißvollen Bogenprobe und ſchloß mit den Worten: „Kröſus tadelte meine Unvorſichtigkeit; ich kenne aber meinen Bruder und weiß, daß er zwar im Zorne zu jeder Gewaltthat fähig iſt und wohl im Stande geweſen wäre, mir im Angeſicht ſeiner Niederlage den Tod zu geben, daß

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter03_1864/218>, abgerufen am 11.05.2024.