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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864.

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Augen in Thränen. Das Geheimniß der Verstorbenen
lag jetzt offen vor ihren Blicken. Sie wußte, daß Tachot
Bartja geliebt, daß sie jene welken Blumen von ihm em-
pfangen und jenen Ball, weil er ihr denselben zugeworfen,
mit Rosen umwickelt hatte. Die Amulete waren gewiß
dazu bestimmt gewesen, entweder ihr krankes Herz zu heilen,
oder Gegenliebe in der Brust des Königssohnes zu er-
wecken.

Als sie endlich jene Schreiben an ihren alten Platz
zurücklegen wollte und einige Tücher, welche den Boden
der Kiste auszufüllen schienen, mit der Hand berührte,
fühlte sie, daß dieselben einen harten, runden Gegenstand
bedeckten. Nun hob sie die Gewebe auf, und fand unter
denselben eine Büste von bunt gefärbtem Wachs *), welche
Nitetis so wunderbar ähnlich darstellte, daß sich Rhodopis
eines staunenden Ausrufs nicht enthalten und sich lange
Zeit an dem köstlichen Kunstwerke des Theodoros von
Samos nicht satt sehen konnte.

Dann legte sie sich nieder und schlief ein, indem sie
an das traurige Schicksal der ägyptischen Königstochter
dachte.

Am nächsten Morgen begab sie sich in den Garten,
welchen wir bei Lebzeiten des Amasis schon einmal betreten
haben, und fand dort unter einer Weinlaube Diejenigen,
welche sie suchte.

Sappho saß auf einem Stuhle von leichtem Flecht-
werk. Jn ihrem Schooße lag ein nackter Säugling und
streckte die Händchen und Füßchen bald seinem Vater, der
vor dem jungen Weibe auf der Erde kniete, bald seiner
Mutter, die sich lachend zu ihm herniederbeugte, entgegen.

*) II. Theil Anmerk. 68.

Augen in Thränen. Das Geheimniß der Verſtorbenen
lag jetzt offen vor ihren Blicken. Sie wußte, daß Tachot
Bartja geliebt, daß ſie jene welken Blumen von ihm em-
pfangen und jenen Ball, weil er ihr denſelben zugeworfen,
mit Roſen umwickelt hatte. Die Amulete waren gewiß
dazu beſtimmt geweſen, entweder ihr krankes Herz zu heilen,
oder Gegenliebe in der Bruſt des Königsſohnes zu er-
wecken.

Als ſie endlich jene Schreiben an ihren alten Platz
zurücklegen wollte und einige Tücher, welche den Boden
der Kiſte auszufüllen ſchienen, mit der Hand berührte,
fühlte ſie, daß dieſelben einen harten, runden Gegenſtand
bedeckten. Nun hob ſie die Gewebe auf, und fand unter
denſelben eine Büſte von bunt gefärbtem Wachs *), welche
Nitetis ſo wunderbar ähnlich darſtellte, daß ſich Rhodopis
eines ſtaunenden Ausrufs nicht enthalten und ſich lange
Zeit an dem köſtlichen Kunſtwerke des Theodoros von
Samos nicht ſatt ſehen konnte.

Dann legte ſie ſich nieder und ſchlief ein, indem ſie
an das traurige Schickſal der ägyptiſchen Königstochter
dachte.

Am nächſten Morgen begab ſie ſich in den Garten,
welchen wir bei Lebzeiten des Amaſis ſchon einmal betreten
haben, und fand dort unter einer Weinlaube Diejenigen,
welche ſie ſuchte.

Sappho ſaß auf einem Stuhle von leichtem Flecht-
werk. Jn ihrem Schooße lag ein nackter Säugling und
ſtreckte die Händchen und Füßchen bald ſeinem Vater, der
vor dem jungen Weibe auf der Erde kniete, bald ſeiner
Mutter, die ſich lachend zu ihm herniederbeugte, entgegen.

*) II. Theil Anmerk. 68.
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[206/0216] Augen in Thränen. Das Geheimniß der Verſtorbenen lag jetzt offen vor ihren Blicken. Sie wußte, daß Tachot Bartja geliebt, daß ſie jene welken Blumen von ihm em- pfangen und jenen Ball, weil er ihr denſelben zugeworfen, mit Roſen umwickelt hatte. Die Amulete waren gewiß dazu beſtimmt geweſen, entweder ihr krankes Herz zu heilen, oder Gegenliebe in der Bruſt des Königsſohnes zu er- wecken. Als ſie endlich jene Schreiben an ihren alten Platz zurücklegen wollte und einige Tücher, welche den Boden der Kiſte auszufüllen ſchienen, mit der Hand berührte, fühlte ſie, daß dieſelben einen harten, runden Gegenſtand bedeckten. Nun hob ſie die Gewebe auf, und fand unter denſelben eine Büſte von bunt gefärbtem Wachs *), welche Nitetis ſo wunderbar ähnlich darſtellte, daß ſich Rhodopis eines ſtaunenden Ausrufs nicht enthalten und ſich lange Zeit an dem köſtlichen Kunſtwerke des Theodoros von Samos nicht ſatt ſehen konnte. Dann legte ſie ſich nieder und ſchlief ein, indem ſie an das traurige Schickſal der ägyptiſchen Königstochter dachte. Am nächſten Morgen begab ſie ſich in den Garten, welchen wir bei Lebzeiten des Amaſis ſchon einmal betreten haben, und fand dort unter einer Weinlaube Diejenigen, welche ſie ſuchte. Sappho ſaß auf einem Stuhle von leichtem Flecht- werk. Jn ihrem Schooße lag ein nackter Säugling und ſtreckte die Händchen und Füßchen bald ſeinem Vater, der vor dem jungen Weibe auf der Erde kniete, bald ſeiner Mutter, die ſich lachend zu ihm herniederbeugte, entgegen. *) II. Theil Anmerk. 68.

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter03_1864/216>, abgerufen am 11.05.2024.