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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864.

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"Kaum hatte Jsis das vorletzte Glied 128) des Osiris
gefunden, als auch vom jenseitigen Ufer des See's trium-
phirende Fanfaren und Lieder erklangen.

"Horus hatte Typhon geschlagen und drang nun, um
seinen Vater zu befreien, in die offne Pforte der Unter-
welt, welche sich auf der Westseite des See's, bewacht von
einem grimmigen weiblichen Nilpferde 129), aufthat.

"Jetzt ertönten, näher und näher kommend, liebliche
Harfen- und Flötentöne, himmlischer Wohlgeruch stieg auf,
ein rosiges Licht verbreitete sich, heller und heller werdend,
über den Hain und, an der Hand seines siegreichen Sohnes,
trat Osiris aus der offenen Pforte der Unterwelt. Jsis
eilte in die Arme des erlösten, von den Todten erstande-
nen Gatten, gab dem schönen Horus von Neuem, statt
des Schwertes, eine Lotosblume in die Hand und streute
Blüten und Früchte aus, während sich Osiris unter einen
mit Epheu umrankten Baldachin setzte und die Huldigung
aller Geister der Erde und des Amenthes *) empfing."

Darius schwieg. Rhodopis ergriff nach ihm das
Wort und sagte:

"Wir danken Dir für Deine anmuthige Erzählung;
würden aber doppelt erkenntlich sein, wenn Du uns den
Sinn dieses seltsamen Schauspiels, welches nicht ohne
höhere Bedeutung sein kann, mittheilen wolltest."

"Deine Ahnung betrügt Dich nicht," antwortete Darius;
"ich muß aber das, was ich weiß, verschweigen, denn ich
habe Neithoteph eidlich versprechen müssen, nicht aus der
Schule zu plaudern 130)."

"Soll ich Dir sagen," fragte Rhodopis, "welchen
Sinn ich nach allerlei Andeutungen des Pythagoras und

*) Unterwelt.

„Kaum hatte Jſis das vorletzte Glied 128) des Oſiris
gefunden, als auch vom jenſeitigen Ufer des See’s trium-
phirende Fanfaren und Lieder erklangen.

„Horus hatte Typhon geſchlagen und drang nun, um
ſeinen Vater zu befreien, in die offne Pforte der Unter-
welt, welche ſich auf der Weſtſeite des See’s, bewacht von
einem grimmigen weiblichen Nilpferde 129), aufthat.

„Jetzt ertönten, näher und näher kommend, liebliche
Harfen- und Flötentöne, himmliſcher Wohlgeruch ſtieg auf,
ein roſiges Licht verbreitete ſich, heller und heller werdend,
über den Hain und, an der Hand ſeines ſiegreichen Sohnes,
trat Oſiris aus der offenen Pforte der Unterwelt. Jſis
eilte in die Arme des erlösten, von den Todten erſtande-
nen Gatten, gab dem ſchönen Horus von Neuem, ſtatt
des Schwertes, eine Lotosblume in die Hand und ſtreute
Blüten und Früchte aus, während ſich Oſiris unter einen
mit Epheu umrankten Baldachin ſetzte und die Huldigung
aller Geiſter der Erde und des Amenthes *) empfing.“

Darius ſchwieg. Rhodopis ergriff nach ihm das
Wort und ſagte:

„Wir danken Dir für Deine anmuthige Erzählung;
würden aber doppelt erkenntlich ſein, wenn Du uns den
Sinn dieſes ſeltſamen Schauſpiels, welches nicht ohne
höhere Bedeutung ſein kann, mittheilen wollteſt.“

„Deine Ahnung betrügt Dich nicht,“ antwortete Darius;
„ich muß aber das, was ich weiß, verſchweigen, denn ich
habe Neithoteph eidlich verſprechen müſſen, nicht aus der
Schule zu plaudern 130).“

„Soll ich Dir ſagen,“ fragte Rhodopis, „welchen
Sinn ich nach allerlei Andeutungen des Pythagoras und

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[188/0198] „Kaum hatte Jſis das vorletzte Glied 128) des Oſiris gefunden, als auch vom jenſeitigen Ufer des See’s trium- phirende Fanfaren und Lieder erklangen. „Horus hatte Typhon geſchlagen und drang nun, um ſeinen Vater zu befreien, in die offne Pforte der Unter- welt, welche ſich auf der Weſtſeite des See’s, bewacht von einem grimmigen weiblichen Nilpferde 129), aufthat. „Jetzt ertönten, näher und näher kommend, liebliche Harfen- und Flötentöne, himmliſcher Wohlgeruch ſtieg auf, ein roſiges Licht verbreitete ſich, heller und heller werdend, über den Hain und, an der Hand ſeines ſiegreichen Sohnes, trat Oſiris aus der offenen Pforte der Unterwelt. Jſis eilte in die Arme des erlösten, von den Todten erſtande- nen Gatten, gab dem ſchönen Horus von Neuem, ſtatt des Schwertes, eine Lotosblume in die Hand und ſtreute Blüten und Früchte aus, während ſich Oſiris unter einen mit Epheu umrankten Baldachin ſetzte und die Huldigung aller Geiſter der Erde und des Amenthes *) empfing.“ Darius ſchwieg. Rhodopis ergriff nach ihm das Wort und ſagte: „Wir danken Dir für Deine anmuthige Erzählung; würden aber doppelt erkenntlich ſein, wenn Du uns den Sinn dieſes ſeltſamen Schauſpiels, welches nicht ohne höhere Bedeutung ſein kann, mittheilen wollteſt.“ „Deine Ahnung betrügt Dich nicht,“ antwortete Darius; „ich muß aber das, was ich weiß, verſchweigen, denn ich habe Neithoteph eidlich verſprechen müſſen, nicht aus der Schule zu plaudern 130).“ „Soll ich Dir ſagen,“ fragte Rhodopis, „welchen Sinn ich nach allerlei Andeutungen des Pythagoras und *) Unterwelt.

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter03_1864/198>, abgerufen am 10.05.2024.