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Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886.

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pathie, Wohlwollen und der Leidenschaft für ideale Vortreff-
lichkeit, in geringeren Naturen aus nach dem gleichen Maße
ihrer Fähigkeiten entwickelten Gefühlen, zu denen noch die
Scham hinzutreten würde, schöpfen."

Jn dem Aufsatze "Die Nützlichkeit der Religion" hat
Mill ganz offenbar mit allen Bestandtheilen und Wahngebilden
eines übernatürlichen Glaubens gebrochen. Auf die Ein-
wendung, daß bei der Begrenztheit des irdischen Lebens sich
keine erhabenen Gefühle an dasselbe knüpfen lassen, antwortet
er*): "Man vergesse nicht, daß, wenn auch das Leben des
Einzelnen kurz ist, das Leben der Menschheit nicht kurz ist;
seine unbestimmte Dauer läuft faktisch auf Unbegrenztheit
hinaus und in seiner Verbindung mit einer unbestimmten
Fähigkeit der Vervollkommnung bietet es der Einbildungskraft
und der Sympathie ein hinreichend großes Feld, um jedem
billigen Anspruche auf Erhabenheit anzustrebender Ziele zu
genügen. Wenn ein solches Feld einem an Träume von
unendlicher und ewiger Glückseligkeit gewöhnten Geiste klein
erscheint, so wird es doch ganz andere Dimensionen annehmen,
wenn jene grundlosen phantastischen Vorstellungen einmal der
Vergangenheit angehören werden." Er gibt hier ferner auch
der Ueberzeugung Ausdruck, daß der Mensch, je vollkom-
mener er sein Leben gestalten, um so eher sich mit dem-
selben begnügen und um so weniger nach Unsterblichkeit sich
sehnen wird**).

*) p. 89.
**) p. 103. "Es scheint mir nicht nur möglich, sondern wahr-
scheinlich, daß in einem höheren und vor Allem in einem glücklicheren
Zustande des Lebens nicht Vernichtung, sondern Unsterblichkeit eine uns
bedrückende Vorstellung sein würde, und daß die menschliche Natur,
wenn auch befriedigt durch die Gegenwart und durchaus nicht un-
geduldig sie zu verlassen, Trost und nicht Betrübniß in dem Gedanken

pathie, Wohlwollen und der Leidenſchaft für ideale Vortreff-
lichkeit, in geringeren Naturen aus nach dem gleichen Maße
ihrer Fähigkeiten entwickelten Gefühlen, zu denen noch die
Scham hinzutreten würde, ſchöpfen.“

Jn dem Aufſatze „Die Nützlichkeit der Religion“ hat
Mill ganz offenbar mit allen Beſtandtheilen und Wahngebilden
eines übernatürlichen Glaubens gebrochen. Auf die Ein-
wendung, daß bei der Begrenztheit des irdiſchen Lebens ſich
keine erhabenen Gefühle an daſſelbe knüpfen laſſen, antwortet
er*): „Man vergeſſe nicht, daß, wenn auch das Leben des
Einzelnen kurz iſt, das Leben der Menſchheit nicht kurz iſt;
ſeine unbeſtimmte Dauer läuft faktiſch auf Unbegrenztheit
hinaus und in ſeiner Verbindung mit einer unbeſtimmten
Fähigkeit der Vervollkommnung bietet es der Einbildungskraft
und der Sympathie ein hinreichend großes Feld, um jedem
billigen Anſpruche auf Erhabenheit anzuſtrebender Ziele zu
genügen. Wenn ein ſolches Feld einem an Träume von
unendlicher und ewiger Glückſeligkeit gewöhnten Geiſte klein
erſcheint, ſo wird es doch ganz andere Dimenſionen annehmen,
wenn jene grundloſen phantaſtiſchen Vorſtellungen einmal der
Vergangenheit angehören werden.“ Er gibt hier ferner auch
der Ueberzeugung Ausdruck, daß der Menſch, je vollkom-
mener er ſein Leben geſtalten, um ſo eher ſich mit dem-
ſelben begnügen und um ſo weniger nach Unſterblichkeit ſich
ſehnen wird**).

*) p. 89.
**) p. 103. „Es ſcheint mir nicht nur möglich, ſondern wahr-
ſcheinlich, daß in einem höheren und vor Allem in einem glücklicheren
Zuſtande des Lebens nicht Vernichtung, ſondern Unſterblichkeit eine uns
bedrückende Vorſtellung ſein würde, und daß die menſchliche Natur,
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[30/0039] pathie, Wohlwollen und der Leidenſchaft für ideale Vortreff- lichkeit, in geringeren Naturen aus nach dem gleichen Maße ihrer Fähigkeiten entwickelten Gefühlen, zu denen noch die Scham hinzutreten würde, ſchöpfen.“ Jn dem Aufſatze „Die Nützlichkeit der Religion“ hat Mill ganz offenbar mit allen Beſtandtheilen und Wahngebilden eines übernatürlichen Glaubens gebrochen. Auf die Ein- wendung, daß bei der Begrenztheit des irdiſchen Lebens ſich keine erhabenen Gefühle an daſſelbe knüpfen laſſen, antwortet er *): „Man vergeſſe nicht, daß, wenn auch das Leben des Einzelnen kurz iſt, das Leben der Menſchheit nicht kurz iſt; ſeine unbeſtimmte Dauer läuft faktiſch auf Unbegrenztheit hinaus und in ſeiner Verbindung mit einer unbeſtimmten Fähigkeit der Vervollkommnung bietet es der Einbildungskraft und der Sympathie ein hinreichend großes Feld, um jedem billigen Anſpruche auf Erhabenheit anzuſtrebender Ziele zu genügen. Wenn ein ſolches Feld einem an Träume von unendlicher und ewiger Glückſeligkeit gewöhnten Geiſte klein erſcheint, ſo wird es doch ganz andere Dimenſionen annehmen, wenn jene grundloſen phantaſtiſchen Vorſtellungen einmal der Vergangenheit angehören werden.“ Er gibt hier ferner auch der Ueberzeugung Ausdruck, daß der Menſch, je vollkom- mener er ſein Leben geſtalten, um ſo eher ſich mit dem- ſelben begnügen und um ſo weniger nach Unſterblichkeit ſich ſehnen wird **). *) p. 89. **) p. 103. „Es ſcheint mir nicht nur möglich, ſondern wahr- ſcheinlich, daß in einem höheren und vor Allem in einem glücklicheren Zuſtande des Lebens nicht Vernichtung, ſondern Unſterblichkeit eine uns bedrückende Vorſtellung ſein würde, und daß die menſchliche Natur, wenn auch befriedigt durch die Gegenwart und durchaus nicht un- geduldig ſie zu verlaſſen, Troſt und nicht Betrübniß in dem Gedanken

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Zitationshilfe: Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/druskowitz_religionsersatz_1886/39>, abgerufen am 23.04.2024.