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Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886.

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widmet; es liegt in den an sie gerichteten Worten etwas
von dem Geiste, der aus Dante's Vita nuova und Shelley's
Epipsychidion zu uns spricht.

Wie der Leser aus den soeben in der Note gegebenen
Citaten ersieht, war das Selbstgefühl, welches unsern
Philosophen erfüllte, kein geringes, ja, es war über der Aus-
arbeitung seiner neuen Religion ein fast krankhaftes geworden.
Nie fühlte sich ein Geist mehr zu einer hohen Mission be-
rufen, nie fühlte sich jemand mehr berechtigt über alle großen
Angelegenheiten ein entscheidendes und letztes Wort auszu-
sprechen, als Comte. Jndem er sich mit der Würde eines
Hohenpriesters der neuen Religion umgab, war auch sofort
ein alles vergewaltigender, sich unfehlbar dünkender Pontifex
aus ihm geworden.

Freilich konnte es scheinbar mit der Menschheit niemand
besser meinen, als Comte. Durch das Glück, das er selbst
ein Jahr lang in seiner Liebe zu Clotilde de Vaux genossen,
ward die schon früher gehegte Ueberzeugung vollends in ihm
befestigt, daß in dem Altruismus -- vivre pour autrui
-- die vollkommenste Bürgschaft für das allgemeine Wohl
liege, weshalb derselbe zum obersten Lebensprinzipe erhoben
werden müsse. Nur die Menschenliebe könne die Menschheit
erlösen, indem sie zum primum mobile des Lebens wird,
alle anderen Antriebe ihr untergeordnet werden. Eine Reli-
gion der Menschheit soll die übernatürliche Religion ersetzen.

Comte sieht das Wesen der Religion einerseits in der
harmonischen Ausbildung des Einzelnen, andrerseits in der
Harmonie der Jndividuen untereinander.*) Diese Harmonie

*) Politique positive. I. p. 9: "Cet etat synthetique consiste
ainsi, tantot a regler chaque existence personelle, tantot a rallier les
diverses individualites
Vergl. Comte, Catechisme positiviste
(deuxieme edition 1874). pag.
42.
Politique positive. II. p. 8. Avant tout, je dois ici dissiper

widmet; es liegt in den an ſie gerichteten Worten etwas
von dem Geiſte, der aus Dante’s Vita nuova und Shelley’s
Epipſychidion zu uns ſpricht.

Wie der Leſer aus den ſoeben in der Note gegebenen
Citaten erſieht, war das Selbſtgefühl, welches unſern
Philoſophen erfüllte, kein geringes, ja, es war über der Aus-
arbeitung ſeiner neuen Religion ein faſt krankhaftes geworden.
Nie fühlte ſich ein Geiſt mehr zu einer hohen Miſſion be-
rufen, nie fühlte ſich jemand mehr berechtigt über alle großen
Angelegenheiten ein entſcheidendes und letztes Wort auszu-
ſprechen, als Comte. Jndem er ſich mit der Würde eines
Hohenprieſters der neuen Religion umgab, war auch ſofort
ein alles vergewaltigender, ſich unfehlbar dünkender Pontifex
aus ihm geworden.

Freilich konnte es ſcheinbar mit der Menſchheit niemand
beſſer meinen, als Comte. Durch das Glück, das er ſelbſt
ein Jahr lang in ſeiner Liebe zu Clotilde de Vaux genoſſen,
ward die ſchon früher gehegte Ueberzeugung vollends in ihm
befeſtigt, daß in dem Altruismus — vivre pour autrui
— die vollkommenſte Bürgſchaft für das allgemeine Wohl
liege, weshalb derſelbe zum oberſten Lebensprinzipe erhoben
werden müſſe. Nur die Menſchenliebe könne die Menſchheit
erlöſen, indem ſie zum primum mobile des Lebens wird,
alle anderen Antriebe ihr untergeordnet werden. Eine Reli-
gion der Menſchheit ſoll die übernatürliche Religion erſetzen.

Comte ſieht das Weſen der Religion einerſeits in der
harmoniſchen Ausbildung des Einzelnen, andrerſeits in der
Harmonie der Jndividuen untereinander.*) Dieſe Harmonie

*) Politique positive. I. p. 9: „Cet état synthétique consiste
ainsi, tantôt à régler chaque existence personelle, tantòt à rallier les
diverses individualités
Vergl. Comte, Catéchisme positiviste
(deuxième edition 1874). pag.
42.
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[11/0020] widmet; es liegt in den an ſie gerichteten Worten etwas von dem Geiſte, der aus Dante’s Vita nuova und Shelley’s Epipſychidion zu uns ſpricht. Wie der Leſer aus den ſoeben in der Note gegebenen Citaten erſieht, war das Selbſtgefühl, welches unſern Philoſophen erfüllte, kein geringes, ja, es war über der Aus- arbeitung ſeiner neuen Religion ein faſt krankhaftes geworden. Nie fühlte ſich ein Geiſt mehr zu einer hohen Miſſion be- rufen, nie fühlte ſich jemand mehr berechtigt über alle großen Angelegenheiten ein entſcheidendes und letztes Wort auszu- ſprechen, als Comte. Jndem er ſich mit der Würde eines Hohenprieſters der neuen Religion umgab, war auch ſofort ein alles vergewaltigender, ſich unfehlbar dünkender Pontifex aus ihm geworden. Freilich konnte es ſcheinbar mit der Menſchheit niemand beſſer meinen, als Comte. Durch das Glück, das er ſelbſt ein Jahr lang in ſeiner Liebe zu Clotilde de Vaux genoſſen, ward die ſchon früher gehegte Ueberzeugung vollends in ihm befeſtigt, daß in dem Altruismus — vivre pour autrui — die vollkommenſte Bürgſchaft für das allgemeine Wohl liege, weshalb derſelbe zum oberſten Lebensprinzipe erhoben werden müſſe. Nur die Menſchenliebe könne die Menſchheit erlöſen, indem ſie zum primum mobile des Lebens wird, alle anderen Antriebe ihr untergeordnet werden. Eine Reli- gion der Menſchheit ſoll die übernatürliche Religion erſetzen. Comte ſieht das Weſen der Religion einerſeits in der harmoniſchen Ausbildung des Einzelnen, andrerſeits in der Harmonie der Jndividuen untereinander. *) Dieſe Harmonie *) Politique positive. I. p. 9: „Cet état synthétique consiste ainsi, tantôt à régler chaque existence personelle, tantòt à rallier les diverses individualités Vergl. Comte, Catéchisme positiviste (deuxième edition 1874). pag. 42. Politique positive. II. p. 8. Avant tout, je dois ici dissiper

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Zitationshilfe: Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/druskowitz_religionsersatz_1886/20>, abgerufen am 18.04.2024.