Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_478.001 Die moderne Poetik leistet der Poesie der Gegenwart einen pdi_478.011 Auch erblicken wir bereits in ungewissen Umrissen die pdi_478.029 Dem Germanen wird stets nicht ein Schicksal, nicht eine pdi_478.032 pdi_478.001 Die moderne Poetik leistet der Poesie der Gegenwart einen pdi_478.011 Auch erblicken wir bereits in ungewissen Umrissen die pdi_478.029 Dem Germanen wird stets nicht ein Schicksal, nicht eine pdi_478.032 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0180" n="478"/><lb n="pdi_478.001"/> giebt den Erfahrungen des Lebens und des Herzens einen <lb n="pdi_478.002"/> gesteigerten Ausdruck. Sie stellt die Schönheit des Lebens <lb n="pdi_478.003"/> inmitten seiner Bitternisse, die Würde der Person inmitten <lb n="pdi_478.004"/> ihrer Bedingtheit dar. Hier erreichen wir in der von uns betrachteten <lb n="pdi_478.005"/> Stufenfolge von Leistungen der Poesie deren höchste <lb n="pdi_478.006"/> Function. Die Verbindungsglieder, welche von der früher dargelegten <lb n="pdi_478.007"/> allgemeinsten und elementaren Function aller Dichtung <lb n="pdi_478.008"/> zu dieser ihrer höchsten Leistung führen, sind überall angedeutet; <lb n="pdi_478.009"/> der Leser wird uns ergänzen.</p> <lb n="pdi_478.010"/> <p> Die moderne Poetik leistet der Poesie der Gegenwart einen <lb n="pdi_478.011"/> weiteren Dienst, indem sie die geschichtliche Natur der Technik <lb n="pdi_478.012"/> erkennt und so den heutigen Poeten mit den aus der Natur <lb n="pdi_478.013"/> des Menschen fliessenden <hi rendition="#g">Regeln</hi> und den in geschichtlicher <lb n="pdi_478.014"/> Arbeit erworbenen <hi rendition="#g">Kunstgriffen</hi> bekannt macht, dagegen ihn <lb n="pdi_478.015"/> <hi rendition="#g">von den Fesseln ererbter Formen und Regeln befreit.</hi> <lb n="pdi_478.016"/> Noch die Poetik unserer grossen Dichter hat die epische <lb n="pdi_478.017"/> Poesie an die Grundgesetze der homerischen Form binden wollen, <lb n="pdi_478.018"/> und noch die Poetik von Freytag und Otto Ludwig hat unser <lb n="pdi_478.019"/> Drama der Form Shakespeares unterworfen. Die Poetik, deren <lb n="pdi_478.020"/> Umrisse wir gaben, hat dem heutigen Dichter die Principien, <lb n="pdi_478.021"/> an welche der Eindruck geknüpft ist, und die Normen, durch <lb n="pdi_478.022"/> welche sein Schaffen gebunden ist, dargelegt. Aber sie hat <lb n="pdi_478.023"/> zugleich die geschichtliche Relativität auch der vollkommensten <lb n="pdi_478.024"/> Form erwiesen. Sie will den gegenwärtigen Dichter bestimmen, <lb n="pdi_478.025"/> für den Gehalt der Zeit eine neue Form und Technik zu <lb n="pdi_478.026"/> suchen und in der dauernden, allgemein befriedigenden Wirkung <lb n="pdi_478.027"/> sein höchstes Gesetz zu sehen.</p> <lb n="pdi_478.028"/> <p> Auch erblicken wir bereits in ungewissen Umrissen die <lb n="pdi_478.029"/> neuen Formen, in denen der dichterische Gehalt unserer Zeit <lb n="pdi_478.030"/> und unseres Volkes seinen Ausdruck finden kann.</p> <lb n="pdi_478.031"/> <p> Dem Germanen wird stets nicht ein Schicksal, nicht eine <lb n="pdi_478.032"/> Krisis, sondern ein Held im Mittelpunkt der Dichtung stehen. <lb n="pdi_478.033"/> Nun überschreiten schon Nathan, Iphigenie und Faust gänzlich <lb n="pdi_478.034"/> den Nexus von Leidenschaft, Schuld und Katastrophe. Hier ist <lb n="pdi_478.035"/> breite, freie Darstellung eines heldenhaften Seelenlebens, das <lb n="pdi_478.036"/> mannigfach bedingt, schuldig-unschuldig, mit der Wirklichkeit </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [478/0180]
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giebt den Erfahrungen des Lebens und des Herzens einen pdi_478.002
gesteigerten Ausdruck. Sie stellt die Schönheit des Lebens pdi_478.003
inmitten seiner Bitternisse, die Würde der Person inmitten pdi_478.004
ihrer Bedingtheit dar. Hier erreichen wir in der von uns betrachteten pdi_478.005
Stufenfolge von Leistungen der Poesie deren höchste pdi_478.006
Function. Die Verbindungsglieder, welche von der früher dargelegten pdi_478.007
allgemeinsten und elementaren Function aller Dichtung pdi_478.008
zu dieser ihrer höchsten Leistung führen, sind überall angedeutet; pdi_478.009
der Leser wird uns ergänzen.
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Die moderne Poetik leistet der Poesie der Gegenwart einen pdi_478.011
weiteren Dienst, indem sie die geschichtliche Natur der Technik pdi_478.012
erkennt und so den heutigen Poeten mit den aus der Natur pdi_478.013
des Menschen fliessenden Regeln und den in geschichtlicher pdi_478.014
Arbeit erworbenen Kunstgriffen bekannt macht, dagegen ihn pdi_478.015
von den Fesseln ererbter Formen und Regeln befreit. pdi_478.016
Noch die Poetik unserer grossen Dichter hat die epische pdi_478.017
Poesie an die Grundgesetze der homerischen Form binden wollen, pdi_478.018
und noch die Poetik von Freytag und Otto Ludwig hat unser pdi_478.019
Drama der Form Shakespeares unterworfen. Die Poetik, deren pdi_478.020
Umrisse wir gaben, hat dem heutigen Dichter die Principien, pdi_478.021
an welche der Eindruck geknüpft ist, und die Normen, durch pdi_478.022
welche sein Schaffen gebunden ist, dargelegt. Aber sie hat pdi_478.023
zugleich die geschichtliche Relativität auch der vollkommensten pdi_478.024
Form erwiesen. Sie will den gegenwärtigen Dichter bestimmen, pdi_478.025
für den Gehalt der Zeit eine neue Form und Technik zu pdi_478.026
suchen und in der dauernden, allgemein befriedigenden Wirkung pdi_478.027
sein höchstes Gesetz zu sehen.
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Auch erblicken wir bereits in ungewissen Umrissen die pdi_478.029
neuen Formen, in denen der dichterische Gehalt unserer Zeit pdi_478.030
und unseres Volkes seinen Ausdruck finden kann.
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Dem Germanen wird stets nicht ein Schicksal, nicht eine pdi_478.032
Krisis, sondern ein Held im Mittelpunkt der Dichtung stehen. pdi_478.033
Nun überschreiten schon Nathan, Iphigenie und Faust gänzlich pdi_478.034
den Nexus von Leidenschaft, Schuld und Katastrophe. Hier ist pdi_478.035
breite, freie Darstellung eines heldenhaften Seelenlebens, das pdi_478.036
mannigfach bedingt, schuldig-unschuldig, mit der Wirklichkeit
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