Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_477.001 So bestimmt der folgende Zusammenhang für den modernen pdi_477.026 pdi_477.001 So bestimmt der folgende Zusammenhang für den modernen pdi_477.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0179" n="477"/><lb n="pdi_477.001"/> des geistigen Haushaltes, die im Mittelalter durch die Verbindung <lb n="pdi_477.002"/> von Theologie und Metaphysik bestand, ist seit dem fünfzehnten <lb n="pdi_477.003"/> Jahrhundert allmälig aufgelöst worden. Der weite <lb n="pdi_477.004"/> Raum, der bis dahin von metaphysischen Constructionen erfüllt <lb n="pdi_477.005"/> war, wird nun von der Religion und der Kunst eingenommen. <lb n="pdi_477.006"/> Shakespeare, Cervantes oder Ariosto sprachen die Bedeutung des <lb n="pdi_477.007"/> Lebens anspruchslos und naiv aus, ohne einen Wettstreit mit <lb n="pdi_477.008"/> Theologie oder Philosophie zu wagen. Richardson, Sterne und <lb n="pdi_477.009"/> Swift, Rousseau und Diderot, Goethe und Schiller fühlten das <lb n="pdi_477.010"/> Recht des genialen Menschen, aus seinem Gefühl die Bedeutung <lb n="pdi_477.011"/> des Lebens in Bildern zu entwickeln, aber sie suchten noch <lb n="pdi_477.012"/> ein Verhältniss zum metaphysischen Denken. In unseren Tagen <lb n="pdi_477.013"/> ist dem dichterischen Genie die Bahn ganz frei gemacht. Da die <lb n="pdi_477.014"/> Religion den Halt metaphysischer Schlüsse auf das Dasein Gottes <lb n="pdi_477.015"/> und der Seele verloren hat, ist für eine grosse Anzahl gegenwärtiger <lb n="pdi_477.016"/> Menschen nur noch in der Kunst und der Dichtung eine <lb n="pdi_477.017"/> ideale Auffassung von der Bedeutung des Lebens vorhanden. Das <lb n="pdi_477.018"/> Gefühl durchdringt die Poesie, dass sie die authentische Interpretation <lb n="pdi_477.019"/> des Lebens selber zu geben habe, ja selbst die Ausschreitungen <lb n="pdi_477.020"/> des mit der Socialwissenschaft wetteifernden französischen <lb n="pdi_477.021"/> Romans sind in diesem Bewusstsein begründet. Derselbe <lb n="pdi_477.022"/> occupirt einstweilen zwischen Sümpfen ein Terrain: wir <lb n="pdi_477.023"/> wollen hoffen, dass auf diesem einst das blühende Leben echter <lb n="pdi_477.024"/> Dichtung entstehen werde.</p> <lb n="pdi_477.025"/> <p> So bestimmt der folgende Zusammenhang für den modernen <lb n="pdi_477.026"/> Menschen der Poesie ihre Stelle. Dieser heutige Mensch will <lb n="pdi_477.027"/> aus dem Leben machen, was sich durch die Kunst des Lebens <lb n="pdi_477.028"/> aus ihm machen lässt. Denn der Glaube der denkenden Erfahrung <lb n="pdi_477.029"/> an ihre grenzenlose Leistungsfähigkeit scheint täglich <lb n="pdi_477.030"/> neu bestätigt. Der moderne Mensch kann das aber nur, sofern <lb n="pdi_477.031"/> er Causalzusammenhang und Bedeutung des Lebens erkennt. <lb n="pdi_477.032"/> Die Wissenschaften der Natur und der Gesellschaft haben den <lb n="pdi_477.033"/> ursächlichen Zusammenhang aller Erscheinungen zum Gegenstand. <lb n="pdi_477.034"/> Dagegen die Bedeutung des Lebens, wie die der äusseren Wirklichkeit <lb n="pdi_477.035"/> ist für sie nicht erreichbar. Diese ist in der Lebenserfahrung <lb n="pdi_477.036"/> individuell und subjectiv enthalten. Die Dichtung </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [477/0179]
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des geistigen Haushaltes, die im Mittelalter durch die Verbindung pdi_477.002
von Theologie und Metaphysik bestand, ist seit dem fünfzehnten pdi_477.003
Jahrhundert allmälig aufgelöst worden. Der weite pdi_477.004
Raum, der bis dahin von metaphysischen Constructionen erfüllt pdi_477.005
war, wird nun von der Religion und der Kunst eingenommen. pdi_477.006
Shakespeare, Cervantes oder Ariosto sprachen die Bedeutung des pdi_477.007
Lebens anspruchslos und naiv aus, ohne einen Wettstreit mit pdi_477.008
Theologie oder Philosophie zu wagen. Richardson, Sterne und pdi_477.009
Swift, Rousseau und Diderot, Goethe und Schiller fühlten das pdi_477.010
Recht des genialen Menschen, aus seinem Gefühl die Bedeutung pdi_477.011
des Lebens in Bildern zu entwickeln, aber sie suchten noch pdi_477.012
ein Verhältniss zum metaphysischen Denken. In unseren Tagen pdi_477.013
ist dem dichterischen Genie die Bahn ganz frei gemacht. Da die pdi_477.014
Religion den Halt metaphysischer Schlüsse auf das Dasein Gottes pdi_477.015
und der Seele verloren hat, ist für eine grosse Anzahl gegenwärtiger pdi_477.016
Menschen nur noch in der Kunst und der Dichtung eine pdi_477.017
ideale Auffassung von der Bedeutung des Lebens vorhanden. Das pdi_477.018
Gefühl durchdringt die Poesie, dass sie die authentische Interpretation pdi_477.019
des Lebens selber zu geben habe, ja selbst die Ausschreitungen pdi_477.020
des mit der Socialwissenschaft wetteifernden französischen pdi_477.021
Romans sind in diesem Bewusstsein begründet. Derselbe pdi_477.022
occupirt einstweilen zwischen Sümpfen ein Terrain: wir pdi_477.023
wollen hoffen, dass auf diesem einst das blühende Leben echter pdi_477.024
Dichtung entstehen werde.
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So bestimmt der folgende Zusammenhang für den modernen pdi_477.026
Menschen der Poesie ihre Stelle. Dieser heutige Mensch will pdi_477.027
aus dem Leben machen, was sich durch die Kunst des Lebens pdi_477.028
aus ihm machen lässt. Denn der Glaube der denkenden Erfahrung pdi_477.029
an ihre grenzenlose Leistungsfähigkeit scheint täglich pdi_477.030
neu bestätigt. Der moderne Mensch kann das aber nur, sofern pdi_477.031
er Causalzusammenhang und Bedeutung des Lebens erkennt. pdi_477.032
Die Wissenschaften der Natur und der Gesellschaft haben den pdi_477.033
ursächlichen Zusammenhang aller Erscheinungen zum Gegenstand. pdi_477.034
Dagegen die Bedeutung des Lebens, wie die der äusseren Wirklichkeit pdi_477.035
ist für sie nicht erreichbar. Diese ist in der Lebenserfahrung pdi_477.036
individuell und subjectiv enthalten. Die Dichtung
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